Für Lili
Abend am Irtyschufer. Sommerbläue mit Silberdunst. Auf dem Wasserspiegel flimmern helle Streifen und verlieren sich weit draußen hinter der in gelbes Mondlicht gehüllten kleinen Insel. Verankerte Boote liegen friedlich nebeneinander und wiegen sich in den Wellen. Menschen flanieren die Uferstraße entlang. Auf den Gesichtern den Anflug eines Lächelns. Burschen schlendern Arm in Arm mit ihren Mädchen, die, so glaubt Linda zu spüren, mit gewissem Besitzerstolz auf sie schauen. Linda beneidet diese Mädchen im stillen und möchte gern so sein wie sie – fröhlich und selbstbewusst. Aber Linda ist krank. Man merkt ihr die Krankheit nicht an, und sie muss oft genug hören, wie gut und frisch sie aussehe. Der vom Wind gekämmte Sand ist warm und weich. Linda steht nah am Ufer. Zarter Abendwind streichelt behutsam ihr loses Haar, während ihr Kopf voller Gedanken ist, voller quälender Gedanken, die nie ein Mensch erfahren wird. Linda war auch früher gemessen in Wort und Wesen, doch in letzter Zeit hat sie sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen, kann tagelang vor sich hingrübeln, fühlt sich einsam und geht den Leuten dennoch aus dem Weg. Das Insichhineinschweigen wird ihr zur zweiten Natur. Sie hatte einen Freund, noch von den Studienjahren her. Beide waren gleichaltrig. Er hatte dunkelbraunes welliges Haar, eine tiefe Stimme und ernste dunkle Augen. Er hielt sie für das schönste Mädchen der Welt und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Nun aber hatte sie sich absichtlich mit ihm verzankt. Hat Schluss gemacht. Sie wollte ihm nicht zur Last werden mit ihrem Unglück. Ach, diese ungeheure Krankheit hat ihr einen dicken Strich gezogen durch alle Jugendpläne… Es begann nach einer bösartigen Grippe mit trockenem Husten und dem zunehmenden Gefühl, keine Luft zu bekommen. Linda fieberte, war ständig müde und brauchte Schonung. Das Leben schien ihr unerhört glanzlos und traurig. Zum Arzt ging sie erst, als sich ihr Zustand zusehends verschlechterte. Im Krankenhaus lebte sie dann monatelang von Spritzen und Tabletten. Stumm schaute sie zum Fenster hinaus in den undurchdringlichen Herbstnebel. Ihr Freund besuchte sie jeden Abend nach der Arbeit. Später, als es ihr schon besser ging, spazierten sie durch den Krankenhausgarten oder saßen auf einer einsamen Bank in der Laube. Endlich kam die Zeit, da Linda ins Sanatorium fuhr. Weit hinaus in eine ganz andere Welt, wie es ihr schien. Doch anfänglich erging es ihr dort wie vielen Neulingen – sie wollte sofort ausreissen, wollte zurück in „ihr“ Krankenhaus, zurück zu ihren Ärzten und schickte ein Telegramm nach dem anderen: Holt mich heim! Holt mich heim! Sie hatte das grausige Gefühl, in der Fremde sterben zu müssen. Allmählich gewöhnte sie sich an das Leben im Sanatorium und genoss es sogar, einmal überhaupt nichts zu tun. Eigentlich war es ganz gemütlich in dem schneeweißen Zimmer, und wohltuend war der Ausblick auf das zwischen dichten Nadelwäldern und flachen Wiesen gelegene grüne und friedliche Tal. Es duftete wunderbar nach Harz und frischen Gräsern, und in der Ferne zeichneten sich die Konturen der Berge ab. Tagsüber lebte es sich großartig. Kurze Ausflüge in die freie Natur bei schönem Wetter. Wiesenblumen, Musik und Tanz. An feuchttrüben Tagen wurde gelesen, Dame und Schach gespielt. Anders die Nächte. Lang brannte bei ihr Licht und sie fühlte sich oft gänzlich erschöpft. Kettenweise kamen ihr die Gedanken und ließen sie in ihrem zerwühlten Bett nicht einschlafen. Sie weinte in ihre Kissen und wusste – es schadet ja nur, das Weinen. Sie hätte früher zum Arzt gehen sollen, dann wäre sie jetzt nicht in dieser trostlosen Lage… Morgens verriet die Fieberkurve jedesmal deutlich, wie wenig Linda den ärztlichen Mahnungen, sich nicht aufzuregen, folgte. Der trockene Husten blieb. Nach einem halben Jahr kehrte Linda aus dem Sanatorium zurück, äußerlich gesund, sonnengebräunt und blühend schön, dass man sie einfach anstaunen musste. Aber in ihren scheinbar so offenen Augen lag eine merkwürdige Verschüchterung, ein Schleier von heimlicher Angst und traurigem Wissen. Sie machte Schluss mit ihrem Freund und wollte allein sein. …Abend am Irtyschufer. Sommerbläue und Silberdunst. Friedlich liegen die Boote nebeneinander und schaukeln auf den Wellen. Linda steht nah am Uferrand. Ihr Blick folgt den golden glänzenden Lichtstreifen auf dem Wasserspiegel. Mit einer Haarsträhne wischt der Wind ihr die Tränen von den Wangen. „Weine nicht, Linda“, sagt jemand ganz leise neben ihr und nimmt ihre schmalen Hände behutsam in die seinen.
1980