„SO WUNDERSCHÖN UND TAUFRISCH WAREN DIE ROSEN“

Sie trafen sich zufällig nach vielen Jahren in einer fremden Stadt an einer Bushaltestelle und erkannten einander sofort. „Vera!“ rief er freudig erregt, „nein, dass du es bist, Vera!“ Sie nahm die grünliche Sonnenbrille ab und schaute ihn sekundenlang aus zusammengekniffenen Augen an. Ihr Herz zog sich zusammen. Unerwartet für sich selbst umarmte sie ihn und presste den Kopf an seine Brust. Er umfasste sanft ihren Nacken. „Wie klein du bist“, sagte er und fühlte sich plötzlich unaufhaltsam in die Vergangenheit gleiten, in jene ferne Sommernacht vor Veras Haustür, als die Rosen verschwenderisch blühten und er den einzigen Wunsch hatte, Vera zu küssen, sie aber nicht anzurühren wagte. Längst vergessene Gefühle und Gedanken, all die sehnlichen Hoffnungen und Illusionen aus der Zeit seiner ersten Liebe erwachten in ihm. Er umklammerte Veras Hände und begann hastig auf sie einzureden, als fürchte er, nicht alles sagen zu können, wie damals. „…und ich wäre glücklich gewesen, hättest du mich gebraucht“. „Saratow 3-11-89“, sagte sie nur, schob ihn unsicher lächelnd mit ihrer goldberingten Hand sachte zur Seite und ging schnell über die Straße.. Bestürzt stand er da und schaute dem über­füllten Bus nach, der Vera in entgegengesetzter Richtung davontrug. Drei-elf-neunundachtzig. Saratow. Sie war ihm gleich bei den Aufnahmeprüfungen aufgefallen mit ihrem schmalen zarten Gesicht, den graugrünen, leicht schräggestellten Augen und dem schulterlangen rötlichblonden Haar. Er wohnte im Studentenheim, sie bei ihren Eltern. Vera beteiligte sich aktiv an der Laienkunst. Er sah sie gern und machte aus diesem Grunde auch mit, auch war er froh, sie jeden Abend nach Hause begleiten zu dürfen. Im Sommer standen sie oft noch eine Weile im Vorgarten, wo die Rosen blühten und dufteten. „So wunderschön und taufrisch waren die Rosen…“ Dieses Turgenewsche Gedicht hörte er zum ersten Mal, als Vera es rezitierte. Er hat es nie wieder von einem anderen gehört… Vera war impulsiv, launisch und leicht verletzbar. Manchmal stritten sie sich wegen einer Kleinigkeit, wenn sie über ein Buch von Ilja Ehrenburg oder über ein Gedicht von Heinrich Heine diskutierten. Dabei gab sie immer den Anstoß zum Streit, weil sie nur das hörte, was sie hören wollte. Ihm aber blieb nichts weiter übrig, als die ganze Angelegenheit zu einem Scherz zu machen. Vera hatte etwas Strahlendes an sich, etwas unbefangen Heiteres, das ihn mächtig anzog, und er fühlte sich in ihrer Nähe glücklich. Er sah Vera erwartungsvoll an und berührte den rötlichblonden Haarschopf so behutsam, dass es unverkennbar war: Keinerlei Mädchentreue kann sich messen mit dieser Jungenliebe, mit dieser Abhänigkeit und Ergebenheit, mit dieser Wehrlosigket der launischen „Madonna“ gegenüber. „So wunderschön und taufrisch waren die Rosen…“ Die Sommerferien verbrachte er im Heimatdorf. Zusammen mit dem Vater arbeitete er auf einer Kombine, und abends schrieb er Briefe an Vera. Ein neues Herbstsemester hat begonnen. Sonnenüberflutet und in Grün gebettet lag die saubere Stadt an der Wolga. Er erkannte Vera sofort im bunten Durcheinander der Studenten. Sie ähnelte in ihrem fliederfarbenen Seidenkleid einer im Sonnenlicht schwebenden Blütendolde. Untrennbar neben ihr ragte der schöne Emil empor, der beste Sportler der Pädschule, der von allen Mädchen angehimmelt wurde. Veras Gesicht strahlte. Er drängte sich zu den beiden durch, Veras grau – grüne Augen blickten aber vorbei an ihm. Sein Erscheinen schien sie sogar zu reizen. Am nächsten Abend stand er eine ganze Weile am Gartentor, spürte den süßen Duft der Rosen und wartete auf Vera. Unschlüssig näherte er sich der Haustür und wollte klingeln – doch ruckartig zog er die Hand. zurück. Er hatte ungewollt in ihr Fenster hineingeschaut. In der hell erleuchteten Stube standen die zwei und küssten sich. Er konnte nicht mehr in der grünen Stadt an der Wolga bleiben und kehrte in sein Dorf zurück. Nach einem Jahr Arbeit als Mechanisator wurde er Mathematikstudent an der Saratower Universität. Er suchte lange keine Mädchenbekanntschaft mehr, hatte die Nase voll , wie er zu sagen pflegte. Nach erfolgreichem Abschluss der Universität und Aspirantur promovierte er zum Kandidaten der Mathematikwissenschaften. Viele Jahre hindurch glaubte er, seine unglückliche Jugendliebe für immer aus dem Gedächtnis ausgelöscht zu haben. Er war stolz auf den Gleichklang in seiner Familie, stolz auf seine zwei Söhne, die in seine Fußtapfen getreten sind. Und nun – diese zufällige Begegnung in der fremden Stadt, dieses blitzartige Sich-Erkennen nach all den Jahren, dieser Sturm in seinem Herzen… „So wunderschön und taufrisch waren die Rosen…“ Ob er anrufen sollte?…

1981