ZU GAST BEI LERMONTOW

Ich habe meine Sommerferien in Kislowodsk verbracht. Reisemüde war ich an einem regnerischen Juniabend dort angekommen , wurde zusammen mit vielen anderen von einem Mitarbeiter des Sanatoriums „Moskwa“ am Bahnhof abgeholt und in meine neue Wohnung gebracht. Ein kleines Zimmer im dritten Stockwerk, weiß in weiß gehalten. Schneeweiße Wände, hauchdünne Tüllgardinen, weiße praktische Möbel. Kirschroter Läufer. Grüner Kronleuchter, eine mattgrüne Tischlampe. Sonst nichts. An der halbgeöffneten Balkontür stand eine blonde, modisch gekleidete Frau und schaute mich interessiert an. Mittelgroß, mit rosiger Gesichtsfarbe und braunen Augen. Die Frau war gesprächig und offenherzig. Sie machte nicht viel Federlesens und nach einer halben Stunde wusste ich Bescheid: Sie heißt Anna Petrwowna K., lebt unweit von Pjatigorsk, ist kinderlos. Ihr Mann ist Bestarbeiter im Sowchos, sie aber ist Gärtnerin, was nach ihrer Meinung die beste Arbeit auf der Welt ist. Anna Petrowna teilte mir mit, sie sei nach Kislowodsk gekommen, nicht um irgendwelchen Flirt zu treiben, sondern um sich gründlich zu erholen. Na, dasselbe wollte auch ich, aber ich hatte noch etwas anderes als Heilwasser-kuren im Sinn, doch wollte ich das der lieben Frau nicht gleich am ersten Abend ausplaudern. Am nächsten Tag begann ich Anna Petrowna vorsichtig über Pjatigorsk auszuforschen und wurde traurig: so lange lebt diese hübsche Frau nah bei Pjatigorsk und war noch nie an jener Stätte, nach der ich mich jahrelang sehnte und die zu besuchen schon immer mein heißester Wunsch war. Einige Tage betrachtete ich mir Kislowodsk und seine Menschen, studierte fleißig die Theater – und Konzertannoncen und überzeugte mich, dass es leider wenig Zeit zum Ausruhen geben wird. In Kislowodsk gibt es viele Sehenswürdigkeiten. Viele berühmte Künstler gastieren in dieser Stadt. Wie könnte man sich alles in einem kurzen Monat ansehen und anhören? Man braucht zusätzliche Zeit, deshalb schwänzt man die Morgengymnastik, die Heilstunden, das Mittagessen usw. Tagaus tagein streift man durch die Stadt und ihre Umgebung. Da sind die schneeigen Berge und der hellblaue Himmel, die kristallreine Luft und das plätschernde Bergflüsschen Olchowka, die modernen Sanatorien aus Glas und Plast und die immerbesetzten Narzanbäder, der geheimnisvolle Zypressenpark und der prachtvolle Friedens-Prospekt, die weiße Kaskadentreppe und die purpurne Rosenallee, der Spiegelteich und der große künstliche See. Besteigt man die Berge, kommt man in eine Märchenwelt: man sieht sich plötzlich im Tempel der Luft, dann bestaunt man das rote Sonnen-Schlösschen, die großen roten Steine mit dem Lenin – Basrelief. Hoch oben zwischen zwei Bergspitzen versteckt sich das alte Sagenschloss „Kabale und Liebe“, nebenan rauscht und tobt der Honigwasserfall. Alle diese Sehenswürdigkeiten sind mit Legenden umwoben und die Kislowodsker Exkursionsführer ver­stehen diese Legenden meisterhaft zu erzählen. Die annoncierten Konzerte darf man auch nicht versäumen. Es ist nicht leicht, eine Eintrittskarte auf Machmud Essambajews Tanzabend zu bekommen, da alle zuvor ausverkauft sind. Anschlag . Auch muss man ziemlich lange Schlange stehn, will man den populärsten Volkschor unter Leitung Alexander Sweschnikows oder das amerikanische Sinfonie-Orchester hören.. Die Zeit rast. Die Zeit flieht. Und sieh – zwanzig Urlaubstage sind dahin! Ich machte Schluss mit den kollektiven Ausflügen und Konzertbesuchen. Nur im Jaroschenko-Museum war ich noch mit einer Touristengruppe. Mir blieben neun Tage. Sie sollten meinem schönsten Wunsch gewidmet sein. Unter Hunderten Menschen stand ich mutterseelenallein auf dem Lermontow-Platz am Denkmal des großen Dichters. Dann fuhr ich mit dem Taxi zum Ring-Berg. Lermontow liebte im Ring hin-und herzuwandeln, während er dichtete. Dasselbe Taxi brachte mich zum Lermontow-Felsen. Ein Unbekannter hat vor 125 Jahren ein Gedicht von Lermontow in die steile Felswand geritzt. Ich wollte den Felsen erklimmen, aber mein dummes Herz schlug Alarm und ich blieb hübsch unten. Dann ging ich zum Lermontow-Wasserfall. Von hier aus sieht man das weiße Kislowodsk im grünen Bergkessel ruhen. Am nächsten Tag schlürfte das Taxi dahin wie eine uralte Mähre. Der Weg wollte und wollte kein Ende nehmen. Wir fuhren schon eine kleine Ewigkeit. In der Ferne schimmerte der greise Elbrus. Endlich war ich an Ort und Stelle. Gruß dir, du liebe traute Stadt, in der Lermontow die drei letzten Monate seines kurzen Lebens verbracht hat. Ich suchte die Lermontow-Grotte auf. Dort sah man den Dichter oft allein, mit einem braunen Büchlein in der Hand. Er arbeitete. Im Stadtpark sitzt Lermontow auf einem hohen Marmorpostament. Er hat den Kopf auf die Hand gestützt und blickt gedankenvoll in die Ferne. Ich legte anspruchslose Feldblumen auf den kalten Sockel… Haus der Wersilins. Hier verweilte Lermontow kaum einen Monat. Hier war ein ständiges Kommen und Gehen. Hier traf er sich mit Martynow, lachte und scherzte und spöttelte. Hier warf ihm der selbstzufriedene Offizier seinen weißen Glacehandschuh vor die Füße… In der Nachbarschaft von modernen Häuserblocks steht das Lermontow-Museum, aber das Wort „Museum“ ist hier gar nicht angepasst, es wirkt steif und entfremdend. Niemand gebraucht es auch im Umgang. Das Volk sagt „Lermontow-Häuschen.“ Das Häuschen ist so rührend niedlich und klein, dass man es zärtlich umarmen und seine Fenster wie geliebte Augen küssen möchte. In diesem poetischen Häuschen am Stadtrand lebte Lermontow. Seine Tage waren gezählt. Er ahnte nicht, wie wenig es sein sollten… Er war freigebig und schenkte der Menschheit in diesen zwei letzten Monaten seines Le­bens eine Poesieperle nach der anderen. Oft stand er sinnend auf dem winzigen Balkon, sein Blick streifte den Maschuk, folgte den Wolken oder haftete abwesend auf der Äolsharfe. Dann kehrte er zurück in das niedrige kleine Zimmer, setzte sich hin und schrieb. Hier saß er, der Stolz und die Hoffnung der russischen Literatur, an einem gewöhnlichen Tisch, auf einem einfachen Lehnstuhl und schuf seine unsterblichen Gedichte. Er schrieb sie in ein kleines Büchlein in braunem Lederband. Dieses Büchlein gab dem betrübten Dichter Wladimir Odojewski vor seiner Abreise, genauer gesagt, vor der Ausweisung in den Kau­kasus, an die Front, unter die feindlichen Kugeln. Lermontow war traurig und sprach von seinem baldigen Tod. Deshalb machte Odojewski auf der ersten Seite des Büch- leins eine Inschrift: „Dem Dichter Lermontow gebe ich dieses alte liebe Büchlein mit der Bedingung, dass er mir es vollgeschrieben SELBST zurückerstattet.“ Das braune Büchlein ist nur halb vollgeschrieben. Gedichte – eines schöner als das andere. „Streit“, „Traum“, „Tamara“, „Der Fels“, „Die Meereskönigin“, „Ein Eichenblatt hat sich getrennt vom heimatlichen Ast“, „Ich wandle allein die Straße daher“ und „Prophet“. Mit diesem Gedicht reißt die wunderbare Perlenschnur ab. Weiter sind nur vergilbte unbeschriebene Blätter… Es dunkelte bereits, als ich ins Touristenheim zurückkehrte. Dort herrschte fröhliche Stimmung. Aus allen Ecken schallte Musik, man hörte Lachen und Singen. An einem Tisch unterhielten sich flotte junge Leute aus Leningrad, wie man aus ihren Gesprächen erfahren konnte. An einem anderen Tisch sprach man grusinisch oder armenisch. Drei ältere Damen flüsterten beim Teetrinken deutsch. Ich schielte verstohlen zu ihnen hinüber und dachte: Wer seid ihr, meine Lieben? Woher kommt ihr? Von wem sprecht ihr? Ihr könntet auch etwas lauter tuscheln… Meine Tischnachbarn sind ein kasachisches Ehepaar mit Zwillingstöchtern. Die Eltern sprechen miteinander kasachisch, die Backfische nur russisch, und zwar perfekt. Ich begab mich auf mein Zimmer. Im Vorübergehen hörte ich die Phrase: „Shall we go down to the monument on the spot of Lermontows duel? Tomorrow?“ (engl. Fahren wir zum Lermontow-Denkmal am Duellplatz? Morgen?). Dasselbe dachte auch ich, nur nicht in einem Fragesatz. Frühmorgens machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Nach einer Stunde begannen Busse und Taxis vorbeizuflitzen. Manche stoppten sogar und luden mich ein mitzukommen. Ich dankte und lehnte ab… Tiefbewegt stand ich am Fuße des Maschuk und starrte den weißen Obelisken trostlos an. Hier also lag Lermontow bis zur Abenddämmerung… Es regnete damals in Strömen. Er fühlte es nicht… Er war auf der Stelle tot… Der russische Zar konnte ruhig schlafen… Der weise Obelisk ist mit einer schweren Marmorkette umgeben und wird von vier stolzen Adlern bewacht. Tag und Nacht halten sie Umschau und blicken den Passanten wachsam und vorwurfsvoll in die Augen. O dieser wehmütige Vorwurf… Wir, Russlands Söhne und Töchter, verdienen ihn. Wir haben unsere größten Dichter leicht sterben lassen. Puschkin. Lermontow. Jessenin. Majakowski… Am nächsten Morgen, es war Mittwoch, besuchte ich Lermontows Grab. Bekanntlich ruht der Dichter nicht mehr unter diesem Hügel. Im Frühling 1842 ließ Jelisaweta Alexejewna Arssenjewa, die Großmutter des Dichters, den Sarg mit dem Leichnam ihres geliebten Enkels von Pjatigorsk nach Tarchany überführen und in einer kleinen Kapelle neben der weißen Kirche beisetzen, wo bereits ihre Tochter, Lermontows Mutter – Maria Michailowna Lermontowa – und ihr Mann, Lermontows Großvater – Michail Wassiljewitsch Arssenjew ruhten. Aber die erste Ruhestätte unseres großen Dichters Michail Jurjewitsch Lermontow wird von den dankbaren Pjatigorskern nicht vergessen. Das Grab wird liebevoll gepflegt, immer gibt es dort frische Blumen, immer wieder kommen neue Besucher zu ihrem Dichter. Auch ich brachte ihm frische Blumen, einen Strauß weißer und roter Rosen. Ringsum aber raunten die dunkelgrünen Tannen eine tragische Geschichte vom 27. Juli 1841. Dieses Raunen seufzt über dem Maschuk, über dem Beschtau, über der ganzen Stadt Pjatigorsk. Ich könnte in dieser Stadt nicht fröhlich sein… Leb wohl, leb wohl, Pjatigosrk. Vergib, ich habe dich nicht gesehen… Ich kehre zurück nach Kislowodsk… Meine Urlaubszeit war abgelaufen. Meine Nachbarin Anna Petrowna, die allen Anweisungen der Ärzte immer gewissenhaft gefolgt war, sah frisch und rosig aus, war jünger und hübscher geworden, während ich, die den Äskulapen so gut ausweichen konnte und nie das Solarium besuchte, mit jedem Tag gelber und hässlicher wurde. Dafür aber habe ich die Lermontow-Stätten besucht und „wie ein sanftes Lied meiner Heimat“ liebe auch ich jetzt den Kaukasus.

1968