ATAMANSCHA

Ende der dreißiger Jahre zählte unser Kolchos zu den führenden Betrieben im Gebiet Saratow. Er war damals schon ein Kolchos-Millionär. Die Pflichtlieferungen an den Staat wurden alljährlich in bedeutendem Maße überboten. Gewinnbringend waren Getreide- und Gemüsebau, aber auch der Tabakanbau brachte der Kolchoskasse stattliche Einkünfte.

Die Brigade der Tabakzüchter wurde angeleitet von einer kleinen schmächtigen Frau mit energischem Charakter, flinken Händen und großen grauen Augen, die strahlend und furchtlos unter dem schlohweißen Kopftüchlein hervorblickten. Die Frau war sachlich und gerecht, arbeitete Seite an Seite mit den Brigademitgliedern, behandelte jeden nach seinem Verdienst und vergass dabei nie, dass die Menschen außer einer Geldtasche auch noch ein Herz haben und schätzte die seelischen Eigenschaften weit höher als beliebige materielle Sachwerte. Sie handelte nach einer von ihr selbst formulierten Devise: „Sag des Wichtischte un mach des Richtichschte“. Dasselbe verlangte sie auch von ihren Mitarbeitern.

Die Tabakbau – Brigade war immer eine der besten im Kolchos und hielt die Rote Wanderfahne fest in der Hand. Die Arbeitsdisziplin war tadellos, die menschlichen Be­ziehungen kameradschaftlich. Die herzhafte Leiterin konnte jedem unverblümt die Wahrheit ins Gesicht sagen, aber auch ihr gegenüber konnte jedermann offen und ungeschminkt seine Meinung äußern. Hinter dem Rücken wurde die kleine Frau Atamanscha genannt.

Die Atamanscha aber lebte kein leichtes Leben. Früh hatte sie ihren

Mann verloren und musste ihre Kinderschar allein hochpäppeln. Sie liebte Bücher, hatte aber nur selten Zeit zum Lesen. Endete ein Roman traurig oder sogar tragisch, war sie empört: „Des isch unrecht! Des hätt anascht ende messe! Jedem soll´s gut gehe, alle Leit solle glicklich sei!“

Mir bleibt nur noch zu sagen übrig, dass diese kleine Frau, diese Atamanscha meine Mutter war, die eigentlich noch einen liebevollen Spitznamen hatte: Doktor Eisenbart. Weil sie die Kranken im Dorf, besonders die Kinder, erfolgreich nach Rezepten der uralten Volksmedizin kurierte – mit allerlei Kompressen, Salben, Schröpfköpfen und Kräuterteen.

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