LIEBE

Schwerlich zu sagen, wem von meinen Schülern die Idee gekommen war, einen Poesiezirkel zu gründen. Die Leitung des Zirkels wurde einstimmig mir übertragen, vielleicht weil man wusste, dass ich manchmal Gedichte in den deutschsprachigen Zeitungen veröffentlichte.

Bald strömten die „poetischen Werke“ haufenweis in unsere Mappen. Die Zahl der Schreiblustigen schwoll bedrohlich an und wir waren gezwungen, die Aufnahme in den Zirkel einzustellen. Mit den „poetischen Werken“ war begreiflicherweise nicht viel los. Alle ähnelten einander wie ein Ei dem anderen, aber eines Abends kam zu unseren Besprechungen ein hochaufgeschossener Junge aus der 10. Klasse. Schweigend legte er ein blaues Schülerheft auf den Tisch und setzte sich in die letzte Reihe.

Heute weiß ich schon nicht mehr genau, wer von den Zirkelmitgliedern als erster das Heft aufgeschlagen hatte und leise daraus vorzulesen begann. Alle Anwesenden horchten verwundert auf, und bald waren wir uns einig, dass wir an diesem Abend einen Dichter entdeckt hatten. Unerklärlich, woher plötzlich die helle Stimmung und das leichte Glücksgefühl gekommen waren, die uns begeistert durcheinanderreden ließen und unsere Besprechungen diesmal nicht zu einem Wettstreit der Gurgeln, sondern zu einem harmonischen Gespräch des Verstandes und der Gefühle machten…

Die Gedichte waren einfach. Ein naivblauer Himmel. Eine lachende Sonne. Eine winddurchwehte Stadt, bewohnt von fleißigen Menschen. Dichtbewohnt. Haus an Haus. Und in einem von diesen Häusern lebte SIE, im Haus gegenüber ER…

Ein anderes Gedicht. Eine lichtüberflutete Wiese. Der Wind streichelt zärtlich die Wuschelköpfchen der saftigen Gräser. Und ER weiß: so weich und duftig wie diese Gräser ist IHR schulterlanges Haar, in dem sich die Sonnenstrahlen verstecken…

Verständlicherweise kann man den Inhalt eines Gedichtes nicht nacherzählen, aber die Verse „unseres“ Poeten waren unverkennbar gut. Später konnten wir uns überzeugen, dass sich Albert – so hieß der Junge – in allem seinen Gedichten ähnelte. Er war warmherzig, aufrichtig, prinzipiell und machte niemals aus schwarz weiß.

Man kann sich leicht vorstellen, wie meine neugierigen Neunklässler die Stadt durchstöberten auf der Suche nach IHR, die unbestritten eine ausgesprochene Schönheit sein musste, ja wie denn anders? Albert schwieg sich darüber aus. Endlich versprach er, SIE mitzubringen. So erschien SIE an einem Nachmittag unter uns. Klein und schmächtig, bleichgesichtig und verlegen schweigsam, dass meine Schreihälse sich fast totwundern wollten: und das soll SIE sein?! Hier möchte ich vorheben, dass unsere „Dichter“ meist schwülstig und erhebend über Liebe und Freundschaft schrieben, sahen sie aber ein verliebtes Pärchen, so johlten und miauten sie ihm unverschämt nach und rissen dumme Witze…

Im Fall Albert und SIE geschah nichts dergleichen. Geradezu im Gegenteil. Sie akzeptierten das liebevolle Benehmen Alberts IHR gegenüber. Es fügte sich von selbst, dass bald darauf alle zusammen die beiden begleiteten und mit ihnen offenherzig über alles in der Welt diskutierten.

Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass das blasse Mädchen gar nicht SIE war. Alberts große Liebe wohnte im Haus nebenan und wurde später seine Frau. Das blasse Mädchen aber war seine Mitschülerin, die an Schwindsucht erkrankt war und nicht glauben wollte an eine Genesung. Albert suchte dem Mädchen zu helfen, brachte sie in die lauthalse Gesellschaft der Poesieliebhaber und hoffte ernstlich, die Kranke würde hier ihre einstige Lebensfreude wiederfinden…