Die regennasse Herbstnacht hatte trübe Pfützen auf der ungepflasterten Uferstraße zurückgelassen. Feuchter Nordwind riss die graublauen Wolken in zackige Fetzen, und triste Morgendämmerung sickerte durch die geschwitzten Fensterscheiben. Leise und rührend wie eine Gitarrensaite summte die Fernsehantenne auf dem Balkon. Einsame Blätter zitterten an dünnen Birkenästen vor dem Fenster. Hie und da reckte eine zähe Aster ihr Wuschelköpfchen aus dem zerzausten Blumenbeet und grüßte den neuen Tag, vielleicht den letzten in ihrem kurzen Leben.
Irma Iwanowna erwachte wie immer Punkt sechs, schlüpfte flink aus dem warmen Bett, öffnete das Klappfenster, turnte und machte ihre Morgentoilette. Dann ging sie in die Küche, steckte das Gas an, setze den Teekessel auf. Der Wecker zeigte drei Viertel sieben. Da schoss es ihr durch den Sinn: Sie hatte ab heute nirgendwohin zu eilen! Betroffen kehrte sie in ihr Zimmer zurück und blieb stehen vor dem prunkvollen und duftlosen Blumenstrauß. Ein Geschenk zu ihrem doppelten Jubiläum. Treibblumen, die sie nicht besonders mochte. Eine bescheidene Glockenblume hätte ihr mehr gesagt als all diese Pracht…
Auf der Diele lag zusammengerollt ein teurer Teppich. Ebenfalls ein Geschenk ihrer Kollegen. Der Teppich war viel zu groß für ihr kleines Zimmer. Was sollte sie damit anfangen? Sie wurde plötzlich bis über die Ohren rot. Wie hatte sie sich gegen diese Jubiläumsfeier gesträubt, und dennoch hatte man´s durchgedrückt.
Der Schuldirektor, das Gewerkschaftskomitee, alle Schüler und das ganze Bedienungspersonal hatten sich in der festlich geschmückten Aula versammelt. Das Blasorchester spielte den „Schulwalzer“ von Dunajewski. Hinter dem rotbedeckten Tisch auf der improvisierten Bühne sass ein ziemlich vielzähliges Präisidium. Man klatschte stürmisch und so lange Beifall, bis Irma Iwanowna endlich nachgab und den Ehrenplatz einnahm. Sie versteckte ihr verlegenes Gesicht hinter dem mächtigen Blumenstrauß. An ihr Ohr klangen irgendwelche Worte, sie bemühte sich anfangs nicht, den Sinn dieser Worte zu erfassen und schaute ratlos umher. Dann aber hörte sie: „…treue Pflichterfüllung, restlose Hingabe…“ Das war denn doch des Guten zuviel! Kurz entschlossen erhob sie sich, schob den Blumenstrauß beiseite, entschuldigte sich beim Präsidium und rief mit heller Stimme in den Saal:
„Meinelieben, lieben Freunde! Besten Dank euch allen für den wunderschönen feierlichen Abend. Und jetzt eine Bitte: machen wir den Lobreden ein Ende! Wollen lieber singen, tanzen und fröhlich sein.“
…Irma Iwanowna stand immer noch vor dem üppigen Blumenstrauß, die Kaffekanne in der Hand, ein verspieltes Lächeln auf den Lippen. Sie schüttelte belustigt den Kopf. Wie der Schuldirektor sie angestarrt hatte! Seine Augen sprachen wahrlich Bände. Und gar der Gewerkschaftsleiter, den Irma Iwanowna mitten in der Lobrede unterbrochen hatte! Der stand mit offenem Munde da. Taktlos, unpädagogisch ihr impulsives Benehmen? Sehr möglich sogar. Eine Lehrerin müsste feinfühliger sein. Sie hatten dieses Fest so gewissenhaft vorbereitet, hatten es so gut gemeint mit ihr, die lieben Kollegen
In der Küche summte der Teekessel. Er fühlte sich als Herr im Haus und tat wichtig. Irma Iwanowna stellte das Gas ab und frühstückte. Sie brauchte sich heute, erstmals in vierzig Jahren, nicht zu beeilen. Niemand wartete auf sie. Aber sollte sie ihren ersten Rentnertag in der Stube verbringen?
Es nieselte, als Irma Iwanowna ihr gemütliches Zimmer verließ. Klein von Wuchs, untersetzt, mit unauffälligen Gesichtszügen und sportlichem Gang, wirkte sie jung in ihrem etwas verschossenen Herbstmantel und der flauschigen Wollmütze.
Menschenleer war die Uferstraße. Es ließ sich gut denken in dieser Stille. Irma Iwanowna fühlte sich geborgen unter dem aufgespannten Regenschirm. Das leichte Aufprallen der geschwätzigen Regentropfen gegen das winzige Obdach begleitete ihre Gedanken wie ein einfühlsamer Akkompagnist den Sänger.
Blutjung, ohne Fachbildung, ohne jegliche Erfahrung hatte sich Irma Iwanowna ans Lehreramt herangewagt. Das Land brauchte Lehrer, besonders Dorfschullehrer, und Irma Iwanowna, damals für alle Welt noch „Irotschka“, kam zu der Überzeugung, sie habe lang genug die Schulbank gedrückt und sei jetzt verpflichtet, was Praktisches zu leisten. Ein Lehrer gilt viel auf dem Lande. Das wusste sie gut. Ihr Vater war ja Dorfschullehrer gewesen. Ihm hatte sie nachgeeifert, auch in der ehrenamtlichen Arbeit im Klub, in der Bibliothek, im Dorfrat. Es gab damals in ihrem Heimatdorf keine Abendschule wie heute. Irma ging von Haus zu Haus, wartete ab, bis die Bäuerinnen ihre Arbeit in Stube und Stall verrichtet hatten und schließlich einige Minuten Zeit fanden, die Fibel aufzuschlagen. Groß war die Freude der Frauen und vielleicht noch viel größer das stolze Glück ihrer jungen Lehrerin, als die „Schülerinnen“ die ersten Worte selbständig buchstabieren und ihre Namen schreiben konnten…
Ach ja, lange lang ist es her… Wie ein halbvergessener Traum steht vor Irma Iwanownas geistigem Auge jener ferne Oktobertag, als sie in Rimski-Korsakowka angekommen war und sich schüchtern bei einem bejahrten Eisenbahner erkundigte, wie man nach Neudorf käme. Zum Glück war der Postwagen noch nicht weggefahren. Der Kutscher, ein behendes Großväterchen mit wetterhartem Gesicht und pfiffigen Äuglein hatte sofort heraus, dass das junge Ding die neue Schullehrerin sei, auf die man schon seit Anfang September wartete. Er schob sich die zottige Pelzmütze in den Nacken, knöpfte seine graue Wattejacke auf und begann redselig über die heutigen Schulkinder zu klagen. Faul seien sie, großschnäuzig und aufsässig, keinen Respekt hätten sie vor den Alten und täten ihre Lehrer schrecklich quälen und verulken, deshalb halte es niemand lange aus in Neudorf. Außer Lehrer Depperschmidt, der ja die Gutheit selbst sei. Das Großväterchen lachte kratzig, streifte Irma Iwanowna mit einem kritischen Blick und schmauchte genießerisch sein Pfeifchen. ,,Die wird auch nicht lange bleiben, die Kleine da“, dachte er höchstwahrscheinlich.
Den furnierten Handkoffer auf den Knien haltend – er war leicht! – sass Irma Iwanowna schweigend neben dem Postillion und hörte zerstreut zu. O ewig ungelöstes Problem der Väter und Söhne, dachte sie und nahm sich fest vor, auszuhalten bei den Neudörfern, bei den „sturrichen Samarern“, wie der Alte seine Landsleute schmunzelnd genannt hatte. Besorgt blickte Irma Iwanowna in die neblige Ferne. Was erwartet sie dort? Würde sie sich durchsetzen können als Lehrerin?
Gegen Abend kamen sie an. Neudorf sah gar nicht neu aus. Niedrige Häuser mit moosbewachsenen flachen Lehmdächern. Nur eine lange Straße. Schiefe Flechtzäune, hinter denen Akazien – und Ahornbäume im Winde seufzten.
Vor einem weißgetünchten Haus unter einem rotbraunen Blechdach machte das Großväterchen halt, strich sich den rauchgelben Schnurrbart zurecht und sagte gewichtig:
„Wot des do is unser Schul, Mädje. Dr Schullehrer werd awer froh sein, wann´r ä Dutzend Halsabschneider loskriecht. Wart mol, Kind, ich fiehr dich selwer nei zum Lehrer. Des passt sich bessr.“
Lehrer Depperschmidt und seine Frau empfingen Irma Iwanowna wie die eigene Tochter nach langjähriger Trennung. Sie wollten nichts hören von Wohnungsuchen, ihre eigene Wohnung sei groß genug für drei Menschen. Bessere Verhältnisse als in Neudorf gäbe es nicht, versicherte Wäs Mile, die Lehrersfrau. Die Schule sei direkt nebenan, hinter der Zwischenwand. Nichts da von Kochen und Waschen! Das werde ihre, der Wäs Miles Sorge sein. Der unpraktischen Irma Iwanowna fiel ein Stein vom Herzen.
Wäs Mile war hochgewachsen, schmalschultrig und sehnig, hatte ein gelbes Gesicht, geschickte knochige Hände, kleine schwarze Augen und eine tiefe raue Stimme. Alles in ihrem Bereich musste blizblank und tipptopp sein. Sie nahm sich nie ein Blatt vor den Mund und handelte stets nach dem Sprichwort: Alles vergeht, Wahrheit besteht. Wie energisch und resolut sie handelte, sollte Irma sehr bald erfahren.
Lehrer Depperschmidt war im Aussehen und Benehmen das direkte Gegenteil zu seiner Frau – mittelgroß, etwas rundlch, träumerisch und weichherzig. Abends spielte er Klavier und sang gefühlvolle deutsche Volkslieder.
„Wenn die Schwalben heimwärts ziehn,
Wenn die Rosen nicht mehr blühn…“ sang er mit verschleierter Stimme, und über sein rosiges Gesicht huschten dunkle Schatten. Sein schlohweißes Haar schimmerte im blassen Licht der Petroleumlampe.
Was Wunder, dass Wäs Mile das Regiment führte! Nicht nur im Haus, sonder auch in der Schule, einem geräumigen Zimmer, in dem vormittags die 2. und 4. Klassen, nachmittags die 1. und 3. Klassen lernten. In der Lehrerwohnung nebenan konnte man jedes im Unterricht gesprochene Wort gut hören.
Heute noch muss Irma Iwanowna laut lachen, gedenkt sie ihrer ersten Stunde in der Neudorfer Grundschule. Lehrer Depperschmidt hatte sie den Klassen 1 und 3 vorgestellt und dann mit den Kindern allein gelassen. Schüler wie andere auch. Kleinere und größere, saubere und schmutzige. Duzend Gesichter und auch ungewöhnliche. Augen, Augen, Augen. Schwarze, blaue, braune, glänzende, schelmische, fragende. Sie alle blickten wartend in ein verwirrtes graues Augenpaar. Mit Schrecken wurde es ihr bewusst, dass sie keinen Laut von sich geben konnte. Sie verspürte eine verräterische Nässe in den Augenwinkeln. Das fehlte ihr gerade noch! Die Schüler schauten verdutzt drein. Einige kicherten bereits und schickten sich an zu witzeln. Da tat sich die Tür geräuschvoll auf, und vor die Klasse trat Wäs Mile, wie immer peinlich sauber gekleidet, ein funkelnagelneues Handtuch in der Rechten. Wäs Mile musterte alle der Reihe nach mit schwarzem stechendem Blick und schickte dann ihre lautstarke Stimme in die bei ihrem Erscheinen entstandene Stille:
„No horcht mol bissl her, ihr Berstebinner. Des do is eier nei Lehrin. Dere do mißtr gehorche wie´n Lehrer Depperschmidt selwer. Und ne dai Boch, dass´r dess vergesst! Guckt ämol her, du Sanderje, du dort in dr Eck, Karlusch, du, struwliches Heinje, un du, Salwador! Eier nei Lehrin is kleener wie ihr, sie is aach net viel äller wie ihr Faulpelzer seid. Awr des bedeitet beileiwe net, dass´r dere uffm Kopp rumdanze derft. Passt uf !!! Ich gesteh mei Sach: Wann sich die Lehrin Irotschka chotj mit aam aanzige Sterwenswertje bei mir beklaache werd iwr eich Spitzbuwe – ich reiss eich alle Schlappohre raus! Ich mach kaa Spaß, des wisst´r jo, gell? Also immr artich sein un net plapre in dr Stund! Verstanne, ihr Lausbengl?“
Ein langgedehntes schallendfrohes „Ja-a-!“ rollte durch die Klasse.
„No do kenne mir jo unser Stund fortsetze. Poschaleste, Lehrin Irotschka“, sagte Wäs Mile würdevoll, hängte sich das funkelnagelneue Handtuch über die linke Schulter und nahm in der letzten Bank Platz.
Irma Iwanowna hatte sich derweilen zusammengerafft und ihre Stimme zurückgewonnen. Ein heißes Dankgefühl zu dieser komisch ernsten Wäs Mile überflutete ihr Herz und ließ sie mühelos den richtigen Ton anschlagen. Damals war sie siebzehn. Heute lächelt sie über die primitive Einführungsrede der Wäs Mile. Aber ihr ganzes Leben lang ist sie der resoluten Frau und dem bescheidenen Lehrer Depperschmidt dankbar geblieben. Noch viele gute Menschen traf sie später auf ihrer Lebensbahn, und allen schuldet sie Dank…
Gut haben es doch die Rentner, können tun und lassen, was sie wollen. Irma Iwanowna verlangsamt vor einem Hochhaus ihre Schritte. Dort wohnt eine liebe Freundin. Das da sind ihre drei Fenster, ihr Balkon. Sie besuchen? Nein, heute nicht. Sie ist aufgewühlt und würde sich dort nur übrig fühlen… Im Vorbeigehen schließt sie für eine Sekunde die Augen und sieht ganz deutlich die Eckwohnung im fünften Stock: den hellen Pfeilerspiegel in der Diele, die umfangreiche Blumenvase auf der Konsole, den großen überladenen Bücherschrank, in dem auch so manch ein mit Autogramm geschmücktes Buch von russlanddeutschen Autoren heimisch ist. Sie sieht den polierten Schreibtisch am Fenster, die Schreibmaschine auf dem Tisch, deutsche Zeitungen und Zeitschriften… Nein, heute möchte sie ihre Freundin nicht stören, denkt Irma Iwanowna und geht langsam weiter, immer weiter die Straße entlang…
Lang, lang ist das her, wie in einem anderen Leben, in einer anderen Welt: Menschenandrang auf den Bahnhöfen, Tumult, Durcheinander. Kälte und Hunger. Verwirrung in den Augen der Greise, Frauen und Kinder. Tränen… Alarmierende Nachrichten von überall her. Gespanntes Warten an den Lautsprechern. Lewitans metallener Bass. Täglich ein und dasselbe:
„Nach andauernden, erbitterten Kämpfen räumten unsere Truppen die Stadt…“
Und ein einziger Wunsch und Gedanke: Als Sanitäterin an die Front oder in ein Hospital, keine Gefahr, keine Schwierigkeiten zu groß! Doch was dann auf sie zukam, erforderte nicht geringeren Mut.
…Kasachstan. Wie fremd und unverständlich schien Irma Iwanowna anfänglich dieses große Land, das ihr mit der Zeit zur zweiten Heimat werden sollte. Das Irtyschland. Ein kleiner Aul unweit vom Rayonzentrum. Gelbe niedrige Lehmhütten zu beiden Seiten der krummen Gasse. Ein Laden. Eine etwas größere Lehmhütte diente als Schule.
Äcker zwischen Birken- und Espenhainen. Und der mächtige graue Strom mit seinen kalten Fluten…
In der Schule war keine Stelle frei, und man riet Irma Iwanowna, sich an die Rayonabteilung Volksbildung zu wenden. Doch sie wollte bei ihren Landsleuten bleiben. Sie ging in eine Feldbrigade, gewöhnte sich bald an die schwere Bauernarbeit, half Kartoffeln und Rüben ausgraben, Silofutter hakken, Fuhren laden. Sie lernte auch pflügen. Das Zugvieh im Kolchos waren damals abgemagerte Ochsen und Kühe. Jede Furche für den Sieg!
Die nächste Station – Archangelsk. Trudarmee. Beil und Säge. Und jeder Baumstamm für den Sieg!
Als sie dann nach vielen Jahren zum Lehrerberuf zurückkehrte, wieviel gab es da aufzuholen, umzulernen! Aber die Wünsche, die ihr Herz anmeldete, die Wachträume, die sie zur Schule begleiteten? Da war sie resolut. Ein Blick auf die Uhr. Herrje! Sie verspätet sich. Fünfzehn vor acht. Weiter gehts im Eiltempo. Sie reißt sich die Mütze vom Kopf, knöpft den Mantel auf und – punkt acht steht sie vor der Klasse. „Guten Tag, Kinder!“ Niemand ahnte auch nur, was Irma Iwanowna sich täglich vorträumte unterwegs zur Schule und auf dem Nachhauseweg.
Was hat sie nun in vierzig Schuljahren erworben, gewonnen und gesammelt? Eindrücke und Gefühle, die alle in ihr weiterleben und ihr schönster Reichtum sind. Tut nichts, dass den Gefühlen fast immer das Wort fehlt. Umgekehrt wärs schlimmer…
Die Regentropfen prasseln jetzt lustig aufs gespannte Schirmdach. Der Herbstwind haucht ihr die Seele voll Fernweh und stimmt sie traurig. Allein… Allein in ihrer Jugend. Allein im Alter. Die Liebe ist an ihr vorbeigegangen. Oder sie an der Liebe. Wer kann das jetzt noch wissen?… Das Leben ist fast dahin. Vorbei wie ein Traum. Sie ist Rentnerin. Hat weder Familie noch Kinder. Weder Ehrenurkunden noch Belobungen. Hat es weder zum Schuldirek-tor gebracht noch zum Hochschullehrer. Ist immer noch die naive Irotschka von anno dazumal.
Ach Herbstwind, aufwühlender Herbstwind. Was summst du mir da von Einsamkeit und Kälte? denkt Irma Iwanowna und klappt den Regenschirm zu. War sie etwa nicht glücklich? Vierzig Jahre gehörte sie zu dem mächtigen Lehrerheer, gehörte zu den Unermüdlichen, die „das Gute, Vernünftige, Ewige“ in die jungen Seelen streuen. Zu all denen, die Maxim Gorki „Menschen mit Sonnentropfen im Blut“ genannt hat. Also weg mit der Wehleidigkeit! Vierzig Jahre ersetzte ihr die Schule alles. Dieser Oktobertag heute ist der Anfang ihres Alters. Na und? Ihr Gewissen ist rein. Wie einst ihre Eltern, hat
auch sie sich weder Ruh noch Rast gegönnt, ist immer im Einsatz gewesen: Schulunterricht, Hefte, Erziehungsarbeit, Vorträge, Laienkunst…
Ja, ja. Gut haben es doch die Rentner. Können tun und lassen, was sie wollen. Sie, zum Beispiel, Irma Iwanowna, will heute den ganzen Tag ziellos durch die Straßen schlendern und dem eigenen Gewissen Rede und Antwort stehen. Bitte schön! Sie kann sich´s leisten. Also weder Rang noch Ruhm? Und die Briefe, die sie fast jeden Tag bekommt? Ihr Ruhm sind ihre Zöglinge, und ihr größter Stolz ist, das viele die Lehrerlaufbahn eingeschlagen haben. Also wenn das nicht Glück ist!…
Es regnete nicht mehr. Der Wind hatte sich davon gemacht und die bleiernen Wolkenklumpen mitgerafft. Strahlenwarm lächelte Frau Sonne die hastenden Städter an. Ein Blick auf die Uhr. Herrje! Schon halb zehn. Es klingelte zur großen Pause – und Irma Iwanowna stand unvermutet mitten im Schulhof. Herbei stürmte ein munteres lautes Völkchen und drängte sich um die alte Lehrerin.
„Guten Tag, Kinder! Wie gehts?“ rief Irma Iwanowna lachend und hörte ihre eigenen Worte nicht.
1969