Wir – meine Schulfreundin Lina und ich – waren damals frischbackene Studentinnen am Saratower Fremdsprachentechnikum und standen in Untermiete bei einer alten Frau mit großen nachdenklichen Augen. Tante Schura hieß die Frau. Sie war gutmütig und fürsorglich und wollte, dass wir schüchternen Dorfmädels uns in ihrer Wohnung und in der schönen Großstadt heimisch fühlen sollten.
Tante Schura besorgte für uns die spärlichen Einkäufe und kochte uns das Mittagessen. Abends bewirtete sie uns des öfteren mit Kartoffel – und Krautpasteten, die sie meisterhaft backen konnte.
Sonntags führte uns Tante Schura aus, wie sie zu sagen pflegte. Wir spazierten im berühmten Linden-Park, gingen zum Flusshafen, besuchten das Tschernyschewski Museum und die Tagesvorstellungen im Tschernyschweski Opernhaus, und Tante Schura machte uns jedesmal darauf aufmerksam, dass die Primaballerina Urussowa eine angeborene Fürstentochter ist. Auch im Dramentheater sahen wir uns mehrere Vorstellungen an und verliebten uns hoffnungslos in den talentierten Schauspieler Iwan Slonow, den bezaubernden Nesnamow in Ostrowskis „Schuldlos Schuldigen“. Im Kindertheater erlebten wir eine Vorstellung des Moskauer Kindertheaters unter Leitung von Natalie Saz. Strahlend schön war damals diese junge Schauspielerin in ihrem langen grauseidenen Kleid! Und ihre Ansprache vor Beginn der Aufführung klingt mir bis heute noch im Herzen nach!
Tante Schura interessierte sich auch für unsere Lernerfolge und hatte nichts dagegen, wenn die Mitstudenten uns manchmal besuchten. Von den vier Jungen, unseren einstigen Mitschülern aus Antonowka, gefiel ihr nur einer, der Emil Noak, und dies wegen dessen Aufgeschlossenheit und Einfachheit mit echtem Bauernhumor. Die anderen drei Buben passten ihr nicht in den Strich.
Wir hatten erfahren, dass Tante Schura sechzig wird und beschlossen, ihr zum Geburtstag eine freudige Überraschung zu machen. Wir schenkten unserer lieben Jubilarin einen prächtigen Blumenstrauß. Tante Schura stellte die Blumen in eine Vase und fing dann plötzlich laut zu weinen an.
„Nanu,Tante Schurotschka, warum weinen Sie denn?“ wollten wir wissen. „Womit haben wir Sie beleidigt, womit?“
„Nicht ihr… das Leben hat mich beleidigt… Man hat mir niemals Blumen geschenkt“, erwiederte Tante Schura und wischte sich die unverhofften Tränen aus den Augen.