Im Hallenhof wächst ein breitastiger Ahornbaum. Anita grüßt ihn jedesmal morgens beim Vorübergehen und verabschiedet sich allabendlich von ihm wie von einem alten Bekannten: Bis Morgen! Ihre Drehbank steht nah am Fenster und Anita kann dem Ahorn manchmal während der Arbeit einen sekundenraschen Blick zu- werfen: Wie gehts, mein Freund? Anita ist aus einem entlegenen Dorf in die Stadt gekommen, hat hier eine Berufsschule beendet und arbeitet im Traktorenwerk. Der Ahorn im Hallenhof ist ihr ein Stückchen Heimatwelt. Zu Hause steht vor ihrem Fenster ebenso ein Ahornbaum und Anita kann sich ihr Elternhaus nicht vorstellen ohne diesen Ahornbaum. Im Frühling beobachtete sie gewöhnlich das Schwellen der Knospen und labte sich an ihrem herben Duft. Unter der sommerlichen Blätterpracht träumte sie von der Zukunft. Die ersten rotgelben Farbenpunkte in der Baumkrone stimmten sie nachdenklich und traurig. So wars zu Hause, so ist es auch hier in der Stadt geblieben. Anita wohnt im Gemeinschaftsheim. Vier Mädchen in einem Zimmer. Natürlich wird zu Hause weniger über die Arbeit gesprochen als sonstwas geschwatzt. Es geht kunterbunt her bei den Mädels. Zukunftspläne werden ertüftelt, Herzensgeheimnisse werden gelüftet oder vertuscht, je nach den Umständen, es wird viel geulkt und gehänselt. Aber das Leben wird auch ernst genommen von den Mädels, die in einer wunderbaren Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft zusammen hausen. Anita ist dank ihrer menschlichen Wärme und Güte das „untadelige Mittelglied“ dieser aufgeschlossenen, durch interessengebundene Arbeit einheitlichen Mädchengesellschaft. Das Leben im Wohnheim verläuft ungefähr so: „Anita, pump mir paar Rubelchen bis zum Lohntag, 15 – 20 Re, ladno?“ bettelt die übermütige und unberechenbare Sweta, die ihr Geld immer schneller ausgibt, wie sie´s einbringt. Anita kramt in ihrem Geldbeutelchen herum und überreicht Swetlana drei Fünfrubelscheine. „Hast du auch noch welches für dich, Netchen?“ fragt Swetlana rhetorisch. „Werd schon auskommen“, meint Anita resolut. „Was planst du für den heutigen Abend, Netuscha?“ forscht Olga einschmeichelnd nach. „Nichts Besonderes. Ich sehne mich so nach Hause. Wahrscheinlich werd ich Briefe schreiben.“ „Na, da kannst du mir ja helfen! Gib mir dein neues Seidenkleid bitte. Wir wollen mit Serjosha heute Abend ins Konzert des Freundschaft-Ensembles gehen.“ „Olja, ich hab das Kleid eigentlich selbst noch nicht getragen…“ „Nu, Annuschka! Nur für den einen Abend, bitte, bitte. Ich werde sehr achtsam sein,“ flüstert die biegsame Olga und schiebt Anita sanft zum Kleiderschrank. Anita unterdrückt einen leichten Seufzer , öffnet die Schranktür, nimmt das schicke blaue Kleid vom Bügelhalter, streicht den fließendweichen Glockenrock mit einer liebkosenden Handbewegung glatt und legt das Kleid dann behutsam auf Olgas Bett. „Danke, Anita!“ ruft Olga hocherfreut, streift sofort ihr Flanellkleidchen ab und schlüpft geschmeidig in die kühle blaue Seide. „Warte mal, Anita. Du borgst mir doch deine rote Wolljacke, gell? Diesteht mir prima! Will meinem Sandro mal bissel Sand in die Augen streuen“, lacht Alma lausbübisch und holt sich ohne viel Federlesens Anitas handgestrickte Wolljacke aus dem Schrank. Alle drei Stubenfreundinnen verschwinden jählings und Anita bleibt allein zurück. Sie schreibt einen Brief an die Eltern, dann nimmt sie ihr sorgfäl- tig verstecktes Tagebuch aus dem Koffer. Anita war zwölf Jahre alt, als ihr Vater ihr zum Geburtstag ein dickes Heft in hellgrünem Umschlag schenkte. Auf der ersten Seite hatte der Vater eine Widmung eingeschrieben: „Meiner lieben Tochter Anita zum An-denken.“ Und in der Mitte der ersten Seite stand in schönen Druckbuchstaben das geheimnisvolle Wort T A G E B U C H . „Wie schreibt man eigentlich ein Tagebuch, Papa?“ hatte sie damals gefragt und der Vater antwortete lächelnd, sie könne jeden Tag aufschreiben, was sie für wichtig oder interessant halte, was sie getan oder gedacht hatte… Mit einem Wort, man könne schreiben, was man wolle. Es sei einfach ein zutrauliches Gespräch mit sich selbst. Anita setzte sich sogleich an den Tisch, schlug das Heft auf und schrieb ebenfalls mit Druckbuchstaben die Überschrift: DAS UNGLÜCKLICHE MÄDCHEN. ROMAN Sie schrieb ihren „Roman“ in einem Atemzug. Tränen tropften ihr auf die Zeilen, aber sie ließ sich nicht stören und schrieb sich ihren ganzen Kummer und Gram vom Herzen. Über ein armes Mädchen, das immer im Schatten der Freundinnen stand und die Hässlichste in der Klasse war. Was halfs, wenn sie stets gut lernte und den Faulpelzen tüchtig unter die Arme griff? Wenn sie ständig Klassenälteste und Wandzeitungsredakteur war? Niemand von den Jungs schrieb ihr heimlich Zettelchen, niemand trug ihr die Schulmappe beim Heimgehen, niemand schenkte ihr ein rundes Spiegelchen oder eine modische Haarklemme zum Frauentag… Zettelchen, Spiegelchen und Höflichkeiten – das alles gehörte anderen: der kraushaarigen Agathe, der blauäugigen Madlene, der hochgeschossenen stolzen Dora oder dem lachlustigen rotbäckigen Mariechen. Sie aber, die tüchtige Anita, war immer nur der Kumpel. Nach einigen Stunden war Anitas „Roman“ niedergeschrieben. Er nahm zwei ganze Seiten ein und endete mit den Worten: Warum bin ich so unglücklich auf dieser Welt? Anita gewöhnte sich bald ans Tagebuchschreiben und widmete dieser Beschäftigung einen großen Teil ihrer Freizeit. Ein Leben ohne diesen hellgrünen „Freund“ , wie sie in Gedanken ihr Tagebuch nannte, schien ihr fast sinnlos und leer, keine Spur bliebe zurück ohne ihn, als hätte sie nie gelebt, die Anita Maier… Vielleicht wird sie mal berühmt werden – kann ja sein! – eine große Schauspielerin, eine begabte Dichterin, eine von allen geliebte und geachtete Lehrerin… Warum auch nicht? Alles ist möglich auf der Welt. Und in diesem Falle wird ihr Tagebuch aufschlussgebend sein: So war es im Leben der großen Schauspielerin A.M. Oder auch: Aus dem Tagebuch der bekannten Dichterin A.M. Vielleicht wird jemand von ihren Schulkameraden eine hervorragende Persönlichkeit? Wer weiß? Was kommt nicht alles vor im Leben?! Auch da wird ihr Tagebuch Auskunft geben können: So war sie (er) in ihren (seinen) Schuljahren… Anita schreibt in ihrem Tagebuch über sich und ihre Familie. Die meisten Aufzeichnungen gelten dem Schulleben und den Schulkameraden. Anitas Träumereien von Berühmtwerden sind nicht sehr aufs eigene Wohl gezielt. Für sich braucht sie nicht allzuviel, aber durch ihren außergewöhnlichen Einsatz und ihr persönliches Zutun möchte sie die ganze Menschheit glücklich machen. Nicht mehr und nicht weniger. Doch mit den Jahren , in der Alltagshast vergass sie allmählich, wie übrigens die meisten Menschen auf der Welt, ihre universellen Vorhaben und war mehr bestrebt, andern zu ähneln, als die eigene Note zu betonen. Ein eifriges Pochen an die Tür. Anita schiebt schnell ihr Tagebuch unters Kopfkissen und macht sich am Tisch zu schaffen. Nadja, ein rundliches Mädel aus dem Nachbarzimmer, kommt mit einer technischen Zeichnung auf Anita zu: „Ich kann mich in diesem Irrgarten nicht zurechtfinden. Hilf mir, Anita. Wenigstens einen Anstoß…“ Zwei Wuschelköpfe neigen sich über die Handzeichnung. Die schweigsame und bedächtige Anita wusste nicht, ob sie von ihren Kameradinnen geliebt und geachtet wird, aber dass man sie braucht, dessen war sie sich sicher. Die Mädchen fühlten sich wohl in ihrer Nähe und wandten sich gern an sie mit allerlei Anliegen. Anita kam jedem mitfühlend entgegen, half, wo und wie sie konnte und machte es unauffallend und selbstlos, nur um des Frohgefühls wegen, anderen nützlich zu sein. Die Mädels nannten Anita scherzhaft „Mitleidsschwester“ und „Geheimnisdose“, treffend, aber kränkend. Anita fühlte sich manchmal einsam im Kreise der Kameradinnen und konnte nicht begreifen, warum man über ihr Verhalten spöttelte. Hilfsbereitschaft war für sie ein natürlicher Wesenszug und die Last der Güte drückte sie nicht. Sie hatte auch nicht den Wunsch, liebedienerisch zu sein oder sich anzupassen. Vor zwei Jahren lernte sie Artur kennen. Er hatte schon den Armeedienst hinter sich und arbeitete als Dreher in der Experimentalhalle. Sie befreundeten sich. Nach Arbeitsschluss wartete Artur unter dem Ahornbaum auf Anita. Die Mädels witzelten gutmütig: Dort steht dein Schatten! Artur begleitete Anita nach Hause. Sie trafen sich im Lesesaal, im Schachklub oder auf Disko-Abenden. Sie stritten sich, versöhnten sich wieder und träumten rosige Träume. Anita imponierte Arturs Begeisterung für die Technik. Er lebte mit den Eltern zusammen, hatte sein eigenes Zimmer, das mehr einer technischen Werkstatt ähnelte, als einem Wohnzimmer. Auf dem Tisch, auf dem Fenster, auf den Stühlen – überall lagen Schrauben und Schräubchen und allerlei Instrumente und Ersatzteile herum. Selbstgebaute Radiogeräte und Musiktruhen waren zu einer mächtigen „Kombine“ zusammenmontiert. Der Fußboten war ein einziges dichtes Maschennetz von verschiedenfarbigen Schnüren und Leitungsdrähten. Unmöglich, in diesem Wirrwarr ein Sitzplätzchen zu finden, aber Artur war zufrieden mit seiner „schöpferischen“ Ordnung und liebte zu wiederholen: „Alles liegt griffbereit. Mutter darf hier niemals aufräumen, sonst gibts einen Mischmasch zum Verrücktwerden.“ „Artur, du bist ein begabter Mensch, musst unbedingt weiterlernen. Aus dir wird noch ein tüchtiger Ingenieur, glaub mir,“ versicherte Anita ihrem Freund stolz. „Praktisch kann ich so allerlei, aber in der Theorie hinke ich auf beiden Beinen, hab mich nie in der Schule zerrissen“, gestand Artur manchmal. Anita war Feuer und Flamme: „Weißt du was? Riskieren wir´s mit der Hochschule. Los, wir beginnen sofort mit der Vorbereitung zu den Aufnahmeprüfungen!“ Statt Spaziergängen, Kino oder Disko-Besuchen war ihre Freizeit nun mit Lehr- und Handbüchern ausgefüllt. Anita war glücklich, dem Freund in allen Lehrfächern helfen zu können und freute sich schon auf das gemeinsame Studium an der Technischen Hochschule. Die kurzen Sommerabende verstrichen schnell und die Zeit der Aufnahmeprüfungen war unmerklich herangerückt. Anitas Tage waren bis zum Rand ausgefüllt von beunruhigender Erwartung… Dass sie die Prüfungen bestehen wird, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Wenn Artur nur nicht versagt, barmte sie und spornte ihn immer wieder an zum Lernen und Wiederholen. Sie heckte sich einen kleinen Trick aus: sie wird ihre schriftlichen Kontrollaufgaben mit Arturs Namen unterzeichnen, er die seinen mit dem ihrigen. Gesagt – getan!.. Als sie dann fiebernd vor den Aufnahmelisten standen, fanden sie nur seinen Namen. Sie lasen die Listen mehrmals durch – das Resultat blieb immer dasselbe. „Unmöglich! Da hat sich bestimmt ein Fehler eingeschlichen. Komm, Anita, gehen wir ins Dekanat. Komm!“ drängte Artur verwirrt und aufgeregt. Anita war von dieser seiner inneren Bewegung so angenehm ergriffen, dass sie die eigene Betrübtheit sofort verschmerzt hatte. „Ach, lass doch! Ist ja alles richtig. Ich freue mich deinetwegen und gratuliere dir herzlich“, sagte Anita und drückte ihm fest die Hand, er aber umarmte sie und küsste sie vor aller Augen auf die Wange. Dann fiel auf dem Heimweg ein sonderbarer Satz, dessen Sinn Anita nie wieder vergessen würde… „Prüfung ist wie Kartenspiel, man muss einfach Glück haben!“ meinte Artur leichtfertig und etwas überheblich. Erstaunt und verständnislos blickte Anita zu ihm empor. Was ist mit ihm? Was ist eigentlich los mit dem Kerl? Anitas schwarzumwimperten Augen wurden immer größer und trauriger. Artur fuhr mit einem Studententrupp zum Ernteeinsatz aufs Dorf und arbeitete dort einen ganzen Monat lang. Anita wartete auf Briefe. Er schickte ihr nur eine Karte. Anita las die paar Zeilen immer wieder und konnte nicht herausbekommen, was er beim Schreiben fühlte oder dachte. Erst im Spätherbst besuchte er sie in ihrem Wohnheim. Sie merkte sofort: er war ein anderer, alles erschien ihr fremd an ihm. Sie fühlte eine gewisse Herablassung ihr gegenüber und konnte den richtigen Ton nicht mehr finden. Artur sagte scherzhaft: „Die Studentinnen sind aber flotte Dinger! Nicht so ernsthaft wie du… Du bist ein sonderbares Mädel, Anita. Zu schwermütig. Vielleicht sogar altmodisch in deinem Benehmen mit jungen Leuten…“ Das war der Abschied. Nachts schrieb sie in ihr Tagebuch: Er hat Recht. Und er braucht mich nicht mehr. Ihm gefallen flotte und kesse Mädels. Menschen wie ich sind für niemanden interessante Partner. Sie stand wieder an ihrer Drehbank, sah wieder den schweigenden Ahornbaum und winkte ihm abends beim Vorübergehen kameradschaftlich zu: bis Morgen! Das Leben im Wohnheim rollte auf vollen Touren weiter. „Anita, wie denkst du: steht mir dieses Kleid?“ „Lass mal sehen, dreh dich mal um“, sagt Anita sachlich, kneift einschätzend die Augen zusammen und betrachtet die Freundin aufmerksam. „Der Grünton steht dir gut, Olja. An den Schultern ist das Kleid etwas zu füllig. Dem ist leicht zu helfen. Schau mal her, hier legen wir schmale Fältchen ein, die in Hüfthöhe aufspringen“. Und beide Mädchen machen sich emsig ans Ummodellieren. „Anita, eine Bitte – borg mir 5 Re bis zum Lohntag, ja?“ Das ist die lustige Swetlana, die immer pleite ist. „Du Mitleidsschwester, du doofe“, brummt die burschikose Alma, die heute ohne Anita auskommen kann. „Alle löffeln dich aus, und am Ende -“ „Jeder lebt eben und handelt auf seine Art, verstehst du?“ unterbricht Anita die Freundin ungeduldig. Da kommt auch schon die rundliche Nadja angelaufen mit einem Stoß Lehrbüchern unterm Arm. Nadja und Anita bereiten sich gemeinsam zum Abendstudium an der Hochschule vor. Die letzte Eintragung in Anitas Tagebuch lautet: Ich liebe ihn. Er ist wie ein Stern, dessen Licht ruft und lockt und dennoch unerreichbar ist für mich.
1978