LESEN UND DENKEN

„Man muss wach, abtastend lesen, auf der Suche…“, schreibt Anna Seghers. Lesen ist für mich ein wichtiger Teil meines Lebens, vielleicht sogar einer der wichtigsten. Mit einem unsicheren Gefühl von innerer Bewegung und Erwartung schlage ich jedes Buch auf, als öffne ich ohne anzupochen die Tür eines fremden Hauses. Wen und was werde ich antreffen hinter der Schwelle? Werde ich mit den mir einstweilen noch unbekannten Menschen ein Wegstück Leben zusammen wandeln wollen? Werden ihre Freuden und Sorgen auch die meinigen sein? Oder bleibe ich uninteressiert und gleichgültig ihrem Schalten und Walten gegenüber? Ist es der letzte Fall, so stöbere ich das Buch durch, klappe es zu – und vergesse es. Für immer. Hat mich aber der Handlungsstrom gepackt und mitgerissen, dann trägt er mich eigenwillig zum unausweichlichen Ufer, ob ich es nun gewollt habe oder nicht.

Nie habe ich ein Buch vom Äußeren her gewählt. Ich liebe das Buch um seines Inhaltes willen und sammle nur inhaltlich ergreifende Bücher. Prosa, aber meist Poesie. Deshalb stehen in meinen Bücherregalen nur solche Bücher, ohne die mein Leben trostlos wäre. Bücher, die mir hilfreich Antwort geben auf verworrene Fragen, mir Trost und Ablenkung sind bei zufälligen Missverständnissen und Enttäuschungen. Bücher sind meine Freunde, auf die ich mich freue, die ich kenne und wiederholt lese. Da sind die Unsterblichen: Schiller und Heine, Puschkin und Lermontow, Tolstoi und Tschechow, Majakowski und Jessenin. Da sind die Unentbehrlichen: Brecht und Becher, Thomas Mann und Anna Seghers, Paustowski, Twardowski, Jaschin, Rubzow, Schukschin… Silva Kaputikjan und Olga Bergholz… Einen Platz im Regal halte ich frei für den glücklichen Augenblick – und ich hoffe, er wird. bald kommen! – da ich einen Sammelband von Victor Klein mein eigen nennen kann. Ein Regal ist voll­ gepfropft mit russlanddeutscher Literatur…

 Lesen von guten und weisen Büchern nährt das Denken, weckt Gefühle und Empfindungen, schenkt uns Kenntnisse, Wissen und Erfahrungen, lehrt uns, das Leben zu meistern und an der Veränderung der Welt teilzuhaben. Immer bleibt auch die Vorfreude der Neuentdeckung, die Begegnung mit Unbekanntem, Unerforschtem. Die Begegnung mit dem Schönen. Solang meine Augen sehen können, will ich lesen, denn ich halte es mit dem Sprichwort: Lesen und Denken sind die Freude des Lebens.

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