AM BRUNNEN VOR DEM TORE

Es war Frühling.

In unserem Dorf gastierte ein Estradenensemble aus Moskau. Abends während des Konzerts sang der Solist des Ensembles russische, ukrainische, moldauische, ungarische und italienische Volkslieder. Er hatte eine wohlklingende Baritonstirnme und sang wunderbar leicht und gefühlvoll. Jedes Lied annotierte er kurz in russischer Sprache.

Unverwandt schaute ich auf die Bühne. Alles an diesem Sänger imponierte mir: sein Äußeres, seine bezaubernde Stimme, seine feinfühlige Interpretierung. Er könnte auch deutsche Lieder singen, dachte ich.

…Nachts konnte ich nicht schlafen. Die schöne Stimme klang in mir. Ich stand auf, machte Licht und begann in Büchern und Noten herumzukramen. Er soll ein deutsches Lied singen, eines meiner Lieblingslieder. Ein Lied. für alle, ein Lied für mich allein. Am besten wäre wohl Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“. Vielleicht gibt es eine russische Übersetzung? Gewiss gibt es eine, ich kenne sie bloß nicht. Der berühmte Sänger aber annotiert seine Lieder gern selbst. Also an die Arbeit. Machen wir unsere Übersetzung!

Frühmorgens ging ich ins Gasthaus und übergab der Diensthabenden einen Brief für den Sänger. Ohne Rückadresse. Ohne Unterschrift. Nur die Noten, den deutschen und den russischen Text und die Bitte, dieses Lied liebzugewinnen…

Wieder war Frühling. Ich übersiedelte nach P. und das erste, was mir am Bahnhof ins Auge fiel, war ein Plakat: Heute, nur einen Abend, singt für euch der Preisträger des internationalen Vokalistenwettbewerbs P.S.

Ich ließ alles liegen und stehen und rannte zum Palast der Eisenbahner.

Abends sass ich im Konzertsaal und schaute unverwandt auf die Bühne. Derselbe Zauberer, dieselben Lieder, und… „Am Brunnen vor dem Tore“! Ein paar Worte zum Inhalt, kurz, wie er zu dem Lied kam, dann sang er das Lied in deutscher Sprache. Der Beifall wollte kein Ende nehmen. Dreimal musste er das Lied wiederholen.

Heute noch klingt es sehnlich in meinem Herzen:

Am Brunnen vor dem Tore,

da steht ein Lindenbaum.

Ich träumt in seinem Schatten

so manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde

so manches liebe Wort.

Es zog in Freud und Leide

zu ihm mich immerfort.

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