IMMER DIE DEINEN

Eine Familie ohne Vater, heißt es, lebt im Niemandsland. Selma dachte anders. Ihr Leben verlief nicht im Niemandsland. Sie war nicht allein. Sie hatte ihre Kinder, Pawlik und Linka. Sie hatte sich zu solch einem Leben entschlossen. Leicht war es allerdings nicht. Na, wie man´s eben nimmt. Zum Bereuen hatte sie keine Zeit. Haushalt und Beruf forderten ihre Rechte, und sie hatte sich ihre eigene Variante von Glück geschaffen.

Ja freilich, ihr hatte die Geborgenheit des Zusammenlebens gefallen, aber eine richtige Zweisamkeit hatte es in ihrem Eheleben nicht gegeben. Vielleicht forderte sie zu viel von ihrem Mann, vielleicht auch zu wenig, das wusste sie nicht genau. Er hatte alle Freiheit, verbrachte die Abende mit den Freunden im Klub, spielte im Blasorchester mit und beteiligte sich im Dramzirkel. So lebten sie sich auseinander. Offensichtlich war es ihre eigene Schuld gewesen. Ihr Mann war eigentlich ein guter Kerl und ein liebevoller Vater, hatte immer gute Laune und war für allen Spaß zu haben, seine Worte wärmten die Seele. Doch mit einemmal fiel alles wie ein Kartenhaus zusammen. Er hatte eine andere, eine junge Kollegin aus seinem Betrieb. Das konnte sie ihm nicht verzeihen. Sie ließ sich scheiden, obwohl er lange gegen die Scheidung war.

Selma war an ein Leben im Laufschritt gewöhnt. Der Alltagskram nahm allmählich Oberhand, und es war nicht mehr das große Leid der Trennung, was sie bedrückte. Sie spürte immer stärker die Last des Alleinerziehens der Kinder. Es war außer ihr niemand da, der in der Familie für Ausgleich und Abwechslung hätte sorgen können. Es kam immer öfter vor, dass es Selma über die Kräfte ging, ausgeglichen zu bleiben, sich voll und ganz den Freuden und Sorgen der Kinder anzunehmen, wenn sie abgespannt von der Arbeit heimkam und oftmals nichts hören und sehen wollte. Immer nahm sie einen ganzen Packen von Berufssorgen mit nach Hause, sie war Lehrerin und Klassenleiterin und hatte auch im Elternrat viel zu tun. Zwar konnte sie abschalten, doch wegschieben, das konnte sie nicht und war deshalb bestrebt, die knappbemessene Zeit durch Intensität zu ersetzen. Vieles kam dabei dennoch zu kurz. Nie waren es die Kinder, nie die Schularbeit. Meist war es der Haushalt und sie selbst, die vernachlässigt wurden. Man kann eben nicht alles haben, man darf nicht alles haben wollen. Sie hatte zumindest Glück mit ihrem Arbeitskollektiv. Die Kollegen standen ihr stets mit Rat und Tat zur Seite.

Auch Linka und Pawlik halfen ihrer Mutti über vieles hinweg. Selma entdeckte an ihren Kindern neue Züge und liebenswerte Eigenschaften, die sie früher nicht so bemerkt hatte, und beobachtete mit stolzer Rührung, wie die Kinder sich bemühten, ihr fast jeden Tag eine kleine Freude zu machen, wie sie um gute Leistungen in der Schule wetteiferten. Seitdem der Vater nicht mehr in der Familie lebte, war Linka Selmas beste Freundin geworden. Alles konnte sie mit der Tochter besprechen, konnte sich auf sie verlassen. Mit ihren elf Jahren führte Linka den Haushalt fast eben so gut wie die Mutter und war eine zuverlässige „Ersatzmutti“ für ihren kleinen Bruder. Nie hat Linka sich beklagt, nie der Mutter Vorwürfe gemacht, dass diese ihr zu viel aufbürden würde und sie zu wenig Zeit zum Spielen hätte.

Pawlik und Linka sollten sich nicht verlassen fühlen, weil sie ohne Vater lebten, deshalb war Selma aktiver ge­worden als je zuvor. Noch nie hatte sie sich für die Freizeit so viel einfallen lassen, wie nach der Scheidung. Für jedes Wochenende nahmen sie sich gemeinsam etwas vor, und die Kinder freuten sich schon im voraus auf die Ruhetage mit Mami. Zusammen gingen sie dann ins Kino oder in Konzerte, machten Ausflüge ins Grüne und besorgten gemeinsam die Einkäufe. Und immer wieder begegneten sie Kindern, die an der Seite ihrer Väter gingen. Väter, die mit ihren Kindern Fußball oder Federball spielten. Väter, die ihre Knirpse auf den Schultern trugen…

Die Scheidung der Eltern war nicht spurlos an Pawlik und Linka vorübergegangen. Das leuchtete Selma ein, doch sie konnte nichts daran ändern. Sie gehörte nicht zu denen, die ihren Kummer in die Welt hinausschreien. Und sie bemühte sich auch nicht um einen neuen Ehepartner. Weiß Gott, sie wollte keinen fremden Mann ins Haus bringen, wollte in keine neue Ehe hineinstolpern. Nein, das wollte sie keinesfalls… Bewusst suchte sie Kontakte zu einträchtigen Familien in der Nachbarschaft. Wenn Pawlik und Linka schon zu Hause das Vorbild einer vollständigen Familie nicht hatten, sollten sie es wenigstens bei anderen Familien sehen und miterleben.

Pawlik und Linka durften ihren Vater öfters besuchen, auch der Vater kam nicht selten zu Besuch, was dann jedesmal für die Kinder der schönste Feiertag war. Anfangs musste Selma sich überwinden, wenn ihr ehemaliger Mann am Wochen­ende zu ihnen in die einst gemeinsame Wohnung kam und bat, die Kinder für das Wochenende mitnehmen zu dürfen. Später war sie froh, sich zu Einsicht und Vernunft durchgerungen zu haben, wusste sie doch: er liebt seine Kinder und kann ihnen noch sehr viel auf den Lebensweg mitgeben. Warum sollten Pawlik und Linka darauf verzichten müssen, bloß weil ihre Mutter noch nicht mit der Enttäuschung fertig geworden ist? Weil sie nicht verzeihen und vergessen kann? Ja, wenn jene Frau nicht gewesen wäre… Aber dann wäre vielleicht eine andere ihm über den Weg gelaufen…

Trotzdem leben wir nicht im Niemandsland, tröstete sich Selma und redete sich ein, dass es ihr und den Kindern gut gehe und sie mit ihrer Lage zufrieden sind. Aber sie hatte sich getäuscht. Dem war nich so. Und dessen wurde sie sich eines Tages bewusst, als sie früher wie gewöhnlich nach Hause kam und Pawlik und Linka sich im Kinderzimmer lebhaft über etwas unterhielten, ohne die Rückkehr der Mutter zu bemerken.

„Wir müssen erst mit Mutti darüber sprechen, bevor wir den Brief absenden“, sagte Linka nachdenklich. Selma horchte  auf. Was haben die Beiden da vor? dachte sie.

„Und wenn Mutti es nicht erlaubt, was dann?“ fragte Pawlik hitzig zurück.

„Dann müssen wir den Brief eben zerreissen“, erwiderte Linka und seufzte tief auf.

„Aber wieso? Warum?“, protestierte Pawlik heftig. „Warum müssen wir ohne Vater leben, wo wir doch einen haben? Er wird bestimmt kommen, wenn wir ihn darum bitten. Er ist ein sehr guter Mensch und liebt uns, ich kenne ihn und bin mir sicher, dass er gern zurückkommen wird…“

„Vielleicht will Mutti gar nicht, dass er zurückkommt…“

„Doch, sie will es“, unterbrach Pawlik seine Schwester ungeduldig. „Warum sollte sie es nicht wollen?! Sie ist doch auch ein guter Mensch. Es ist doch besser, wenn wir wieder alle beisammen sind, das wissen wir doch alle“.

„Bestimmt wäre es besser“, meinte Linka verträumt.

„Ich weiß, auch Vater sehnt sich nach uns. Doch warten  wir erst mal auf Mutti, wir müssen ihr den Brief zeigen und ihre Meinung erfahren, so ist es ehrlicher. Aber jetzt komm, draußen wartet Olga auf uns, wir wollen doch zum Tennisspiel gehen“.

Selma zog sich eilig in die Küche zurück und lehnte geräuschlos die Tür zu. Sie hatte das Gefühl, einen Diebstahl begangen zu haben. Ihr Herz pochte wild. Eine solche Wende hatte sie nicht erwartet. Als die Kinder schon draußen waren, ging sie ins Kinderzimmer, griff mit zitternder Hand nach dem Briefumschlag und zog den Brief heraus. „Lieber Vati“, las sie. „Komm bitte schnell nach Hause! Wir warten auf Dich. Immer die Deinen.

                                                 Pawlik und Linka.“

                                                                                   1985