EIN FÜR ALLEMAL

Ein mittelgroßer schlanker Mann steht am Fenster und trommelt mit dem Zeigefinger gegen die Scheiben. Er sieht nicht den Blütenschaum im Gärtchen, hört nicht das vielstimmige Zwitschern der Vögel unter dem blauen Himmel.

Schrecklich. Sinnlos und schrecklich, denkt der Mann und trommelt weiter. Tante Lore, eine bejahrte Krankenwärterin, die im Nebenzimmer wohnt und ihm den Haushalt führt, lauscht besorgt hinter der halbgeöffneten Tür.

Nichts! Keine Schritte. Kein Laut. Nur das dumpfe Getrommel an die Fensterscheiben. Auch nach einer halben Stunde ist von drinnen nichts anderes zu hören.

Die Zeit zum Abendbrot rückt heran. Tante Lore klopft leise an die Tür. Keine Antwort. Durch den Türspalt sieht sie den Chefarzt immer noch grübelnd am Fenster stehen.

Tante Lore arbeitet schon das dritte Jahrzehnt in der Klinik und weiß Bescheid. Sie schüttelt nachdenklich den Kopf: Was der Mensch sich wieder mal quält! Dabei trägt er auch nicht die geringste Schuld an dem Tod des Brigadiers. Der junge Mann, weiß Tante Lore von dessen Schwester, fühlte sich schon im Winter recht unwohl, aber er achtete nicht darauf, denn die Frühjahrsaussaat stand vor der Tür. Die letzten drei Tage nun hatte der Mensch unerträgliche Leibschmerzen. Er versuchte es mit elektrischem Heizkissen und Abführmitteln – nichts hat geholfen. Als man ihn dann mit dem Krankenwagen ins Spital brachte und Erich Karlowitsch ihn sofort auf den Operationstisch legte, war es leider schon zu spät…

Tante Lore öffnet behutsam die Tür:

„Welle Se Tee, Erich Karlowitsch?“

Der Mann am Fenster wendet sich um und nimmt die Hornbrille ab.

Müde Hilflosigkeit liegt in dem blassen Gesicht.

„Wie bitte?“

„Ob ich vielleicht Tee bringen soll. Een Glas heeten Tee…“

„Danke. Gute Nacht, Tante Lore.“

„Goude Nacht. Schlafen Sie gut!“

Tante Lore schließt die Tür und geht ihrer Arbeit im Hause nach. Ihr tut der Chefarzt Leid. Er nimmt sich immer alles so zu Herzen. Mit der Zeit, weiß sie, bildet sich bei vielen Medikern eine gewisse berufliche Gefühlskälte heraus, eine Art Immunität: sie werden minder empfindlich gegen die Leiden ihrer Patienten. Sogar Todesfälle bringen sie nicht aus der Fassung. Erich Karlowitsch ist nicht so. Der vergibt sein Herz restlos an seine Schutzbefohlenen, ist immer aufmerksam, fürsorglich, ja sogar zärtlich zu den Kranken. Dabei kann er so streng und anspruchsvoll, nicht selten auch nörglerisch sein dem Dienstpersonal gegenüber. Wortkarg und oft in Gedanken vertieft, wirkt der Chefarzt eher unfreundlich als leutselig, wie er nun mal ist. Aber es arbeitet sich gut mit ihm. Verweise erteilt Erich Karlowitsch nur selten und ist der Meinung, dass jegliche Schimpferei die Menschen erniedrigt. Desto gewis­senhafter werden alle seine Anordnungen erfüllt. Nur eine Schwäche hat Erich Karlowitsch, findet Tante Lore: Seine Selbstanklagen. Die rauben ihm Ruhe und Sicherheit, die man in seinem Beruf braucht. Er weiß ja so viel in seinem Fach. Aber niemand von den Kollegen ahnt, wie viele medizinische Leuchten der Chefarzt schriftlich und telefonisch konsultiert, wieviel Fachliteratur er liest. Immer hat er was nachzuprüfen, nachzuweisen, immer wieder quälen ihn Zweifel…

Die ganze Nacht über konnte der Chefarzt kein Auge zutun. Er wälzte sich schlaflos von einer Seite auf die andere und wiederholte in Gedanken den gesamten Verlauf der Operation… Jede Minute. Jede Sekunde… Anästhesie. Erster Schnitt… Eiter… Tampons. Injektionen… Und immer mehr Eiter… Aus… Ende…

Schrecklich. Sinnlos und schrecklich, denkt er schon zum wievielten Mal und springt aus dem Bett. Tritt ans Fenster und drückt die heiße Stirn an die kalten Scheiben. Draußen scheint der Mond und funkeln die Sterne. Ringsum ist alles still und friedlich.

…Erich Karlowitsch sieht sich als Bürschlein bar-fuß und blondköpfig in aller Herrgottsfrühe die staubige Gasse hinuntereilen, ein leichtes Bündelchen in der Hand. Das geschieht in einem entlegenen Dorf in Kasachstan, wohin sie – Mutter und er – im Herbst 1941 aus Moskau ausgesiedelt wurden. Im Bündelchen zwei Hirsefladen, eine Prise Salz, eine Zwiebel. Mutters Frühstück. Sie arbeitet als Krankenschwester im Lazarett.

Das großäugige, immer hungrige Bürschlein hat sich damals satt gesehen an den Leiden der Verwundeten. Tagelang hat er sich im Spital herumgedrückt, bestrebt, sich irgendwie nützlich zu machen. Aber was konnte er schon, der sechsjährige Knirps? Höchstens – den Kranken mitfühlend in die Augen sehen, ihnen ab und zu einen Schluck Wasser reichen, das Radio ein- oder ausschalten, die Krankenschwester herbeirufen oder einen Brief zur Post tragen. Herzlich wenig war das. Und damals schon reifte in ihm der leidenschaftliche Wunsch, Arzt zu werden, den Menschen zu helfen, sie um jeden Preis „auf die Beine zu stellen“, ein Ausdruck, den er dem Chef­chirurgen des Hospitals abgelauscht hatte. So wählte er früh seinen Beruf. Fürs ganze Leben. Ein für allemal.

…Neue Erinnerungsstreifen. Zu Hause. In Moskau. Nachkriegszeit. Abends am Fernseher. Mutter. Er und Irene, seine Nachbarin und Mitstudentin. Beide im letzten Studienjahr der Moskauer Medizinischen Hochschule. Im Zimmer ist´s warm und gemütlich, auf dem mattblauen Bildschirm Iwan Semjonowitsch Koslowski. Sein silberheller Tenor und die trauten russischen Romanzen dringen tief ins Herz. Oder ist es wegen Irene? Sie sitzt reglos neben ihm da im Halbdunkel, die launenhafte Kleine, hat die Lippen leicht geöffnet, den anmutigen Kopf auf die schmale Hand gestützt. So gefällt sie ihm am besten…

Ein neuer Streifen. Mutter schreitet nervös im Zimmer auf und ab. Verweinte Augen. Das Haar an den Schläfen ergraut, das gewöhnlich so bleiche Gesicht vor Aufregung gerötet.

„Warum eigentlich? Warum solch günstige Gelegenheit verpassen? Eine zweite Chance wird man dir nicht mehr geben“

Er schweigt.

„Unbegreiflich und albern. Man bietet ihm die Aspirantur an, er aber will in die Wüste…“

Er schweigt.

„Warum unbedingt nach Kellerowka, zurück nach Kasachstan? Haben wir dort nicht genug Kälte und Not erlitten während des Krieges? Hab ich mich deshalb für dich abgerackert, dass du jetzt bei deiner guten Berufsausbildung, bei deiner Begabung, bei deinem…“

„Genug, Mama!“

…Ruckhaft ein anderer Streifen. Das gelbe Gesicht des Brigadiers. Tod unter dem Messer… Ach, er wusste es ja von allem Anfang an: Verschleppte Peritonitis. Alles zu spät, viel zu spät… Und doch… Und doch… Er riskierte den Eingriff…

Schlafen! befiehlt er sich gereizt. Genug der Erinnerungen und Emotionen! Das sind schlechte Helfer… Und morgen wieder ein Berg von Arbeit und Sorgen… Schlafen!

…Ihr letztes Stelldichein. Er wartete auf Irene am Majakowski-Denkmal. Irene verspätete sich. Endlich kam sie eilig auf ihn zu. Schick und reizend wie immer.

„Du fährst also nach Kasachstan?“

„Ja.“

„Du liebst mich nicht, Erich!“

„Sprich nicht so. Bitte.“

„Du liebst weder mich noch deine Mutter.“

„Doch, doch, Irene. Du weißt ja…“

„Dann bleibe!“

„Ich kann nicht.“

„Siehst du!“

„Komm mit mir. Komm mit, Irene…“

„Ach, schweig schon!“

Und sie ging fort und schaute sich nicht mehr um. Zurück blieb der feine Duft ihres Parfüms und das metallene Klipp-klapp ihrer hohen Absätze. Sie zerstückelten ihm das Herz…

Wann war das?

…In Kellerowka hatte man ihn damals ziemlich misstrauisch empfangen. Wieder mal ein Grünschnabel aus der Landesmetropole, der wohl auch bald Reißaus nehmen wird wie seine Vorgänger. Und er hatte wirklich Pech, der junge Chirurg. Die Umstände ließen ihm keine Zeit zum Sicheinleben. Ein Mädchen verblutete. Aus Eifersucht hatte ihr Liebster sie verwundet… Drei Stunden dauerte die Operation, drei Stunden kämpfte er um das Leben der Unglücklichen. Das Mädchen starb. Im Nu war die traurige Nachricht im Dorf herum. Fragende Blicke verfolgten den jungen Arzt… Oder schien es ihm vielleicht nur so? Es war schlimm…

Neun Tage waren nach diesem traurigen Ereignis vergangen. Die Gespräche um die Liebestragödie versickerten langsam… Strenges Selbstgericht in schlaflosen Nächten beruhigten den jungen Chirurgen einigermaßen. Er selbst und seine Kollegen hatten alles getan, alles richtig gemacht in dieser schwierigsten Situation. Selbst ein Wunder hätte das Mädchen nicht mehr retten können.

Am zehnten Tag… Das Geschehnis stand ihm klar vor den Augen, als wars erst heute gewesen, nicht vor sieben Jahren…

Nach gelungener operation kurze Ruhepause. In der sonndurchfluteten Ordinatur sind alle in gehobener Stimmung. Weiße Kittel, gestärkte Käppchen, glänzende Augen: alles mal wieder gut abgelaufen, wie am Schnürchen…

Plötzlich ein LKW vor dem Tor des Krankenhauses. Herein stürzt der Fahrer. Kreideweiß, Entsetzen im Blick:

„Hilfe! Schnell! Schneller!“

Alle, die Ärzte, die Schwestern, Tante Lore – alle rannten hinaus. Zum Wagen! – Im Kasten lag regungslos und blutüberströmt ein Mann. So schnell es die Vorsicht zuließ brachten sie den Verunglückten ins Sprechzimmer. Kampfer! Koffein! Narkose! Zur Bluttransfusion vorbereiten! hagelte es Befehle. Zusammen mit dem Internisten behande1te er die klaffende Wunde am Oberarm. Aber nicht sie machte ihm jetzt Sorgen. Das bläulich weiße Gesicht, die blutleeren Lippen, zusammengepresste Zähne, erstarrte Augen… Innere Blutung? Milzruptur?…Kein Zögern! Operiert muss werden!

„Operation!“ befahl er und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er begriff sofort; fast keine Chancen. Fast? Also helfen, retten!

„Operation! Los!“

„Sie wollen operieren? Vie11eicht in die Stadt…“ begann Maria Petrowna, die Internistin, und verstummte jäh unter dem Blick ihres Chefs.

„Der da kann nicht warten! Los!“

Die gutmütige Maria Petrowna bangte um ihren jüngeren Kollegen:

„Seien Sie vernünftig, Erich Karlowitsch. Befolgen Sie meinen Rat. Bitte. Rufen Sie den Chefarzt der Gebietsklinik an…“

„Skalpel!“

Schon dringen die Hände des Chirurgen ein in die blutige Masse. Todesstille. Nur abgehackte Befehle. Zu seiner Rechten steht Schwester Berta. Weiß, kühl, sachlich. An der Apparatur Schwester Pauline, das ängstliche Polinchen mit den veilchenblauen Augen und der samtweichen Stimme.

„Puls! Blutdruck!“

„Fünfzig… Dreißig… Null…“

…Wird er die Erinnerungen heute wirklich nicht mehr los? Unerträglich… Drückende Schwüle im Zimmer. Unmöglich einzuschlafen. Er erhebt sich, stößt das Fenster auf. Lauer Nachtwind bewegt kaum merklich die feinen Tüllvorhänge.

Damals war es so: Briefe an Irene. Briefe von Irene. Briefe an sie. Briefe von ihr. Später: Briefe an Irene. Briefe an sie… An sie… Wieder an sie… Ein Brief von Mutter. Irene hatte geheiratet – ihren wissenschaftlichen Leiter. Er kenne ihn doch? Und ob er ihn kannte, den Dozenten mit dem rundlichen Bauchansatz, der glänzenden Glatze und dem glänzenden Wolga! Seinetwegen also war Irene in Moskau geblieben! Und er hatte gehofft, sie in Kellerowka zu sehen… Er Tor!

Mutters Briefe waren voll Schwermut und Sehnsucht. Sie kränkelte oft und rief ihn zurück in ihr behagliches Heim. In die herrlichste Stadt der Welt. Konnte ihr Einziger denn wirklich nicht loskommen von dem weit in der kasachstaner Steppe gelegenen Dorf Kellerowka? Nein, er konnte nicht! Hier war er als Knirps der kleine Kamerad verwundeter Soldaten gewesen, hier hatte einst sein erster Schultag und jetzt auch seine ärztliche Laufbahn begonnen. Der Start war nicht leicht. Im ersten Dienstjahr waren ihm vier Patienten weggestorben. Missgeschick , aber konnte er es nachweisen? Das Mädchen… Der Traktorist… Die Melkerin… Der Junge… Er selbst hatte keine Fehler begangen, aber der Weg zum Vertrauen wurde ihm unsäglich schwer. Jedesmal musste er sich durchsetzen, musste beweisen, daß er den Menschen helfen wollte, dass er es konnte.

Es hatte sich aber wohl in dem Verhalten der Dorfleute ihm gegenüber vieles geändert: Neuerdings redeten die Menschen ihn immer öfter in ihrer heimischen Mundart an…

Immer öfter äußerte er in seinen Briefen an die Mutter, sie bei sich zu     haben. Eine Wohnung bekäme er zu beliebiger Zeit, die Leute in Kellerowka seien alle gut zu ihm, schrieb er, und er habe auch ein ausgeschlossen gutes Arbeitsteam, ein besseres wünsche er sich überhaupt nicht.

Sie komme im Frühling, antwortete die Mutter sch1ießlich. Ob sie ihre Siebensachen gleich mitbringen solle? Nichts mitbringen, komme bald! telegrafierte er zurück. Er bezog das ihm schon längst angebotene Haus. Zwei Zimmer, Küche, Veranda. Bisher waren sein ganzes Hab und Gut Bücher und Schallplatten gewesen. Jetzt besorgte er schöne Möbel in der Gebietshauptstadt. Das große zweifenstrige Zimmer richtete er für die Mutter ein, das kleinere für sich. Es lag dem Hof zu, gab den Blick ins Grüne frei und hatte einen separaten Eingang.

Im Frühsommer meldete er ein Ferngespräch an, 21 Uhr Moskauer Zeit.

„Hallo! Hallo, Mama! Hörst du mich?“

„Erich, Liebling. Um Gottes Willen, was ist los?“

„Nichts ist los! Ich komme dieser Tage nach Moskau. Halte dich fahrbereit, hörst du, Mama?“

„Wie bitte? Nicht so schnell, mein Junge-“

„Sei fahr – bereit, Mama! Ich komme übermorgen -“

„Ach, Junge, Junge -“

„Alles wird gut, Mutter, alles wird gut. Ja, noch was! Grüße die Bergers von mir. Auch Irene…“

„Sie zeigt sich nur selten hier, Erich…“

„Ach so… Nun Wiedersehn, bis bald, Mama!“

Er legte den Hörer auf, eilte durch die dunklen Straßen, nicht nach Hause, in seine Klinik. Die diensthabende Schwester sagte leise und treuherzig:

„Gehen Sie ruhig nach Hause, Erich Karlowitsch. Alles ist in bester Ordnung, alles ist still, die Kranken schlafen…“

„Danke. Will nur mal reingucken.“

Er ging den schmalen Korridor entlang, blickte in die Krankenzimmer, kam zufrieden zurück, blieb vor dem Tisch stehen und lächelte die Schwester freundlich an:

„Stellen Sie sich mal vor, Sara Shakenowna, meine Mutter kommt bald nach Kellerwoka, nicht zu Besuch, für immer!“

„Da freuen Sie sich aber riesig, nicht wahr?“

„Natürlich, liebe Sara Shakenowna. Gute Nacht denn!“

„Gute Nacht. Eigent1ich: Guten Morgen, Erich Karlowitsch.“

Und Sara Shakenowna zeigte lächelnd auf die Wanduhr…

…Einige Jahre hatte er Moskau nicht gesehen. Die Riesenstadt war noch höher und schöner geworden in dieser Zeit. Die Mutter dagegen war stark gealtert ohne ihn. Und Bergers, die Nachbarsleute, konnten ihm nicht in die Augen schauen. Er fragte auch nicht nach Irene. Auf der Kommode stand ein großes neues Foto, eigentlich ein vergrößertes Foto aus früheren Zeiten: Ein rundlicher Dreikäsehoch neben Irene. Er und sie. Daneben ein anderes Foto: Irene mit ihrem Kind. Irene schien eine ganz andere zu sein als jenes Mädel, das er kannte und liebte. Schön war sie jetzt, schön und fremd. Ob sie glücklich war? Ihre Augen verrieten nichts.

…Der Weg nach Kellerowka führte an reifen Ährenfeldern vorbei, zwischen denen hier und da eine winzige Waldinsel lag. Mehrmals kamen Dörfer in Sicht, und die Mutter vermerkte mit Freude, dass es durchaus nicht mehr die gottverlassenen Steppennester von früher waren.

Dunkelheit schwebte über dem Dorf., als sie ankamen. Er machte Licht und führte die Mutter durch ihr neues Heim. Sie 1ieß ihre Blicke rundum gehen und staunte freudig, stolz  auf ihren großen Jungen…

…An einem nasskalten Aprilabend kam der Chefarzt müde und erschöpft nach Hause und sah seine Mutter nicht sogleich wie immer. Unheimliche Stille im Korridor, in der Küche. Rasch trat er in Mutters Zimmer. „Mutter! „

Sie sass im Sessel, den sie noch ans Fenster gerückt hatte. Angstvoll ging er auf sie zu: Mutter!.. Sie war tot… Er hätte helfen können, wäre er früher gekommen… Mutter, Mutter!…

Eines Tages sagt sich der Chefarzt: Genug mit der Was-soll-nun-werden-Stimmung. Ans Werk, Freund! Halbwache 5 Minuten im Bett, mit Schwung aufgestanden, Morgengymnastik, kalte Dusche.

Kaffeeduft im ganzen Haus. Da ruft Tante Lore auch schon  zum Frühstück. Vollkornbrot mit Butter und Käse, ein weichgekochtes Ei und der herrliche Kaffee. Anschließend eine Zigarette. Ohne die gehts nicht, mag Tante Lore spötteln und auch schimpfen, soviel sie will.

Tante Lore grämt sich um den Chefarzt. Er hat wieder mal nicht geschlafen. Sein Gesicht ist holwangig und b1ass, die Augen aber glänzen so… Gestern war sie einfach erschrocken, als er sie anblickte. Er schaute durch sie – na, wie soll sie das sagen – er schaute durch sie wie durchs Fenster, als wäre hinter ihrem Rücken die Antwort auf seine Fragen versteckt. Die letzte Operation hat ihn wieder stark mitgenommen. Verheiraten müsste man ihn, denkt Tante Lore. Da wäre das nette Paulinchen. Linka- Polinka nennt er sie manchmal, und das Mädel blüht auf wie eine Blume. Hat er denn keine Augen im Kopf, der Mann? Wie lange will er noch seiner verflossenen Moskau-erin nachtrauern?

Seinen Arbeitstag beginnt der Chefarzt regelmäßig mit dem Rundgang durch die Krankenzimmer. Die Blicke der Patienten empfangen und begleiten ihn: dankbare und hilflose, hoffende und prüfende. Das Gesicht des Chirurgen ist undurchdringlich, die Kranken dürfen nur ablesen, was sie ablesen sollen. Sie müssen wissen, müssen glauben, dass man hier keine Mühe scheut, um ihnen hu helfen.

Ohne Eile geht Erich Karlowitsch von Bett zu Bett, setzt sich und fragt nach Befinden und Beschwerden. Er hört aufmerksam zu, befühlt und klopft ab, scherzt mit dem einen oder anderen, sagt der diensthabenden Schwester Bescheid und geht weiter mit freundlichem Gruß: Bis Morgen, meine Lieben! Alle fühlen sich plötzlich besser und glauben an baldige Genesung. Der Chefarzt aber eilt besorgt zur Sprechstunde. Ob er heute nicht ein kleinbisschen zu unachtsam war, oder zu freundlich und optimistisch? Ob seine Augen und Worte im Einklang waren?..

Nach der Sprechstunde – Beratung mit dem Internisten und dem Arztgehilfen: Befund der Kranken, welche und wieviel Arzneimittel in Kürze anzufordern wären, wer aufs Feld muss, wer am Telefon Dienst hat… Maria Petrowna, die Internistin, rückt mal wieder mit irgendwelchen Privatanliegen raus: Kinder, Garten, Haushalt. Man gewährt oder lehnt ab, je nach Situation. Kurze Fachsimpelei mit Schwester Berta, der rechten Hand des Chirurgen. Volles gegenseitiges Verständnis. Beide zufrieden ohne Worte. Ein wahrer Fund, diese liebe Schwester Berta, denkt Erich Karlowitsch lächelnd und erinnert sich ohne jeglichen Grund daran, wie sie vor fünf Jahren zum ersten Mal als Praktikantin in seinem Sprechzimmer auftauchte: se1bstbewusst, gesammelt, kühl, ohne Koketterie. Das gerade machte die Zusammenarbeit mit ihr so angenehm und brachte das Gefühl der Gleichwertigkeit.

In der Küche bespricht der Chefarzt die Speisekarte für morgen und winkt die vorbeigehende Wäschewärterin heran: „Guten Tag, Renate Pawlowna. Wann waren Sie denn das letzte Mal auf Zimmer 4?“

„Warum, Erich Karlowitsch?“

„Ach, nur so eigentlich“.

Wohl eine Rüge? Na klar, kapiert Renate Pawlowna beim Anblick der alles andere als schneeweißen Gardinen in Zimmer 4. Man hat sie am Wochenende übersehen. Geht jetzt in Ordnung. Aber dass ausgerechnet Erich Karlowitsch sie daran erinnern musste, ärgert die rothaarige Renate Pawlowna dennoch ein wenig und beschämt sie gleichzeitig.

Endlich sitzt der Chefarzt wieder in der Ordinatur. Telefongespräche mit der Obrigkeit: Dem einen ruft er ein Versprechen ins Gedächtnis, den anderen bestürmt er mit Bitten, dem nächsten wird sogar gedroht… Das Geklingel dauert 30-40 Minuten. Kostbare Zeit! Anders aber gehts nicht. Man braucht ja all diese Menschen wie die Kranken den Arzt.

Wieder ein Tag vorbei. Wieder hatte Erich Karlowitsch alle Hände voll zu tun. Täglich belastet er sich mit Eindrücken, die er dann abends „verkraftet“. Wieder steht er selbstvergessen am Fenster und zeichnet etwas auf die Scheiben und denkt dabei an den nierenkranken Schlosser Bruno Anhalt, der schon zwei Wochen im Spital liegt. Der Chefarzt wird an ihn denken, bis er ihn „auf die Beine“ gestellt haben wird. Heute hat Bruno endlich seine Ein­stimmung gegeben zur Operation.

„Erich Karlowitsoh, zu Tisch bitte!“ ruft Tante Lore über die Schwelle.

„Ja, ich komme.“

Vertraulich und leise summt der Samowar auf dem Tisch. Beim Teetrinken sagt der Chefarzt versonnen:

„Wie viele Menschen gehen jetzt zu dieser Zeit die Gorki-Straße entlang… Und Moskau glänzt im Neonlicht.“

Tante Lore schweigt. Sie ist nachdenklich und ein bissel neidisch. Nie hat sie in einer großen Stadt gewohnt, und Moskau scheint ihr einfach mär-chenhaft zu sein. Wunderschöne Prospekte und Parks, überall frohe Menschen, Blumen und Musik. Stellt Tante Lore sich all diese Herrlichkeit vor, flößt ihr der Chefarzt – ein prima Fachmann und durch und durch Moskauer – eine grenzenlose Hochachtung ein, er ist in ihren Augen fast ein Held, einer, dessen Händen man vertraut genau so wie seinem Herzen.

Nach dem Abendbrot geht Erich Karlowitsch auf sein Zimmer und schaltet den Plattenspieler ein. Dann hört man eine tiefe Frauenstimme singen:

               „Ich fuhr allein nach Haus

               Und dachte nur an Sie…“

Sonderbar mutet es Tante Lore an, dass der Chefarzt, ein junger Mann von heute, so sehr diese schwermütigen Romanzen und Volkslieder liebt. Der Ehrenplatz in seiner reichen Plattensammlung gehört Koslowski, Lemeschew, Winogradow, Neshdanowa, Obuchowa – alles hervorragende Sänger und Sängerinnen, für die, so meint Tante Lore, die heutige Jugend überhaupt nicht schwärmt…

Der Chefarzt hört sich einige Lieder an, stellt sodann den Plattenspieler ab, nimmt Hut und Mantel und verlässt leise das Haus. Er geht die dunkle Dorfgasse entlang bis zu ihrem Ende und stößt bald auf ein dichtes Birkenwäldchen. Einige Minuten lauscht er der wohltuenden Stille ringsum, macht dann kehrt und geht denselben Weg gedankenversunken zurück. Daheim angekommen, geht er leise auf sein Zimmer, schaltet die Stehlampe ein und schlägt sein „Chirurgie-Handbuch“ auf… Morgen ist wieder Operationstag. Und er, der Chirurg, muss immer mit Herz und Hirn bei der Sache sein.

                                                                                         1974