ZWISCHEN WUNSCH UND WIRKLICHKEIT

Sie sitzt im weichen Sessel und schaut zum Fenster hinaus. Hinter den Bäumen, hinter der traumverlorenen Weite, hinter der schwebenden Linie des Horizonts ist gerade die Sonne untergegangen. Das Zimmer hüllt sich allmählich in Stille und Dämmerlicht. Gerade jetzt ist es am besten , über so manches nachzudenken. Durch das offene Fenster flattert ein großes Ahornblatt herein, legt sich ihr vor die Füße. Sie bückt sich, hebt es auf, legt es auf die flache Hand, deckt es mit der anderen zu – tut so, als wolle sie es erwärmen. Das verwelkte Blatt ruft in ihr Erinnerungen wach. Die rotgelben Gartenhecken draußen leuchten nocheinmal auf und hüllen sich in traurige Stille. Die Altersrentnerin Carla Fischer, eine Frau mit schlohweißem Haar und runzligem Gesicht, denkt über ihr Leben nach. Siebzig ist sie nun geworden, aber immer noch hat sie keine Seelenruhe gefunden. Vergangene, verwelkte Jahre. Auch nicht ein einziger Augenblick ist zu ersetzen, sagt sie sich. Doch das Leben geht weiter . Ruhestand bedeutet keineswegs Stillstand. Man muss auch im Alter ein bestimmtes Lebensziel vor Augen haben, muss sich Aufgaben stellen, an denen man sich messen und bewähren kann, muss sich freuen über jeden sonnigen Tag und nie den Teufel an die Wand malen, mag da kommen was es wolle. Alles geht seinen Lauf. Altersschwäche, trübe Gedanken… Hol sie der Kuckuck, denkt Carla Fischer, der Geist hat jung und fit zu bleiben… Es war im Herbst 1941, als Carla mit ihrer Familie zwangsausgesiedelt wurde nach Kasachstan. Ihr Mann wurde bald darauf in die Trudarmee einbezogen, dort fand er seinen frühen Tod. Fern von ihr, irgendwo im Taigadickicht. Carla stand nun mit ihren drei Kindern alleine da. Sie machte den Buchhalter im Kolchos und hatte sich wie ein Kreisel zu drehen. War sie zu Hause, spukte es in ihrem Kopf: Hast du auch alles richtig gemacht? Hättest du die Rechnungen nicht nocheinmal überprüfen sollen? War sie im Kontor, spukte es wieder: Hast du zu Hause nicht etwas unterlassen, hast du an alles gedacht, den Kindern gesagt, was sie zu tun hätten? So vergingen Tage, Monate, Jahre – ein Teufelskreis, aus dem sie nicht herauskam. Aber ihre Kinder besuchten fleißig die Schule, erlernten nach und nach Berufe, sind alle drei was geworden, wie man so sagt. Heute leben ihre Söhne woanders, die Tochter aber ist bei ihr geblieben. Rita und ihr Mann Robert sind Mechanisatoren, beteiligen sich am öffentlichen Leben des Dorfes. Die vier Enkelkinder drücken die Schulbank. Kommen sie nach Hause, verbringt sie mit ihnen so manche gemeinsame Stunde und hilft ihnen beim Erledigen der Hausaufgaben, was nicht immer leicht ist. Carla freut sich, dass dieses Zusammenleben fast reibungs­los verläuft. Na ja, sie versteht es, sich zu schicken, nicht immer alles besser wissen zu wollen. Die Jungen, die wollen ja auch gern die Klügeren sein. Sie könnten aber manchmal auch etwas herzlicher sein. Das mag wohl an der Zeit liegen. Kernspaltung. Weltraumfahrten… Für Mondschein und Nachtigallgesang hat die heutige Jugend nicht viel übrig. Das merkt man an ihren Liedern, an den Disco-Abenden, in die sie ganz vernarrt sind, und an der heutigen Mode. Gottogott, was man da nicht alles sieht und hört… Im Volksmund heißt es, kleine Kinder treten der Mutter auf die Schürze, die großen treten ihr aufs Herz. So schlimm war es bei Carla gerade nicht, aber auch sie hatte öfters großen Kummer wegen der Kinder, besonders damals, als ihr Großer, der Anton, das Kasachenmädel Aigul heiraten wollte. Das kam über die Mutter wie ein Blitz aus heiterem Himmel. „Du bist verrückt“, hatte sie dem Sohn unter Tränen vorgeworfen, „nimm dir doch ein deutsches Mädel. Schau mal, die Erna Funk. Das wäre eine Frau für dich. Mit der Gulja kannst du ja nicht mal deutsch reden…“ Die Mutter weinte und klagte, aber ihr Sohn wurde noch verschwiegener und blieb bei seiner Entscheidung. Gulja war es, die es verstand, Antons Mutter alsbald für sich zu gewinnen. Aiguls schönes klares Gesicht mit den wundervollen braunen Augen, die ruhige bescheidene Art des Mädchens, ihr Sinn für Gerechtigkeit und Ordnung – das alles machte einen guten Eindruck auf die Mutter. Aigul war Lehrerin, eine von denen, die den Kindern die Freude am Lernen und selbständigen Denken beibrachte. So lernte auch Carla ihre Schwiegertochter lieben und lobte sie recht bald vor ihren Nachbarinnen: „Unsere Aigul hat ein goldenes Herz und goldene Hände.“ Als die junge Familie in die Stadt übersiedelte und sich dort ganz gut einrichtete, konnte Carla sich bei gelegentlichen Besuchen überzeugen, dass Aigul auch Sinn für das Häusliche hatte. In der Familie herrschte eine Atmosphäre von Wärme, Zuneigung und Fürsorge. Anton und Gulja gingen sehr liebevoll miteinander um und strebten danach, ihre Kinder hübsch zu kleiden, ihnen Spielzeug, Bücher und anderes zu kaufen, was den Kindern Spaß und Freude macht. Nun sind Aigul und Anton fünfundzwanzig Jahre verheiratet und haben unlängst ihre silberne Hochzeit gefeiert mit allem Drum und Dran: ein Schub Gäste mit „Schön ist die Jugend“, die anderen mit „Karlygasch“ und alle zusammen mit der Hopsapolka. Und frische langstielige Rosen gab es auch. Schön war dieser Festabend mit dem noch jungen silbernen Paar, mit Enkelkindern, Verwandten und Nachbarn. Und Carla hat sich mit im frohen Reigen gedreht und war glücklich für alle und für sich selbst. Carla erinnert sich an ihren einstigen Wunsch – wenn sie mal alt sein würde, wollte sie sich zurückziehen in einen stillen Winkel und niemanden ihr runzelvergrämtes Gesicht zeigen. Nun aber begrüßt ihre Enkelin Irinka sie jedesmal mit dem Jubelruf: Omalein, wie bin ich froh, dich widerzusehen! Komm doch bitte öfter zu uns! Auch mit ihrem Sohn Martin hatte Carla trübe Stunden gehabt. Er war ein Wildfang ohnegleichen, musste zum Lernen angetrieben werden und stellte gern allerlei Unfug an. Um so lieber arbeitete er auf dem Feld , war mehr fürs Prak­tische. Dann hatte er die Berufsschule beendet und wurde Traktorist. Und verliebte sich auf den ersten Blick. Das Mädchen stammte aus einer kinderreichen Familie und hieß Tamara Smirnowa. Kinobesuche, Tanzabende, eine Bank im Park. Alles war interessant, und Martin und Tamara waren bald unzertrennlich. Im Herbst wurde geheiratet. Martin hat es nach und nach gelernt, seiner Frau im Haushalt mitzuhelfen. Eine Teilung in Männer – und Frauenarbeit gab es dabei nicht, jeder tat, was im Augenblick getan werden musste. Die Familie war beiden wichtig, wichtig aber auch war für sie die gemeinsame Arbeit in der Brigade, waren doch beide Mechanisatoren. So ist es bei denen bis heute geblieben, obwohl sie eine ganze Schar Kinder haben, sechs an der Zahl. Carla lebt monatelang in dieser lauthalsigen Familie ihres jüngsten Sohnes. Jeden Sonntag halten sie „Familienrat“. Da wird darüber gesprochen, wer was getan hat und was wer die nächsten Tage zu tun hätte. Carla Fischer sitzt im weichen Sessel ihrer gemütlichen Stube und schaut durchs offene Fenster in den gepflegten Garten hinaus, der auch Dank ihrer Hilfe so schön und gepflegt ist. Ja, sie hat immer noch mehr Wünsche und Pläne als Zeit und Möglichkeiten. Und sie freut sich, dass sie nicht immer mit den Nachbarinnen auf der Torbank sitzt und über dies und das herumtratscht. Bei den Hoftorgeschichten sind Krankheiten und verschiedene Leiden meist das einzige Thema. Da die alten Leute schnell vergessen, worüber sie kurz zuvor geredet haben, wird ständig das ganze Jammerlied von neuem wiederholt. Carla langweilt sich dabei bis in die Seele hinein. Auch möchte sie nicht so leben wie ihre alte Freundin, die, als ihre Kinder flügge geworden waren, ihr großes Eigenheim verkaufte und sich ein winziges „Märchenschlösschen“ anschaffte. Dort wohnt sie nun mutterseelenallein und kümmert sich um rein gar nichts mehr. Sogar die Enkelkinder interessieren sie nicht mehr. „Dodefor hun ich weniger Arwet un fiehle mich recht wohl debei. In dem Heisje kann ich ruhig lewe bis an mei selig End“, sagt sie, seelenruhig dreinblickend. Wer weiß, vielleicht ist es gut, so zu leben, besonders für alte Leute, die mehr Ruhe brauchen. Garla hat früher selbst oft den Tag herbeigesehnt, an dem sie ihre fünfundfünfzig würde und endlich alle Anstrengungen des Arbeitsalltags abschütteln könnte und einfach so in den Tag hinein leben würde, ohne Sorgen, ohne Hast. Ihr wurde im Leben nichts geschenkt, sie hat sich alles selbst erkämpfen müssen. Über die tägliche Kleinarbeit ist sie nie hinübergekommen. So blieben denn auch viele Bücher, die sie gern gelesen hätte, ungelesen. Und wieviel Kinofilme hat sie nicht gesehen, die sie gern gesehen hätte. Im Ruhestand, dachte sie, würde sie das alles nachholen. Jedes Jahrzehnt des menschlichen Lebens hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten. Diese Worte eines großen Dichters hatte Carla irgendwann und irgendwo gelesen, es ist freilich schon sehr, sehr lange her. Also Hoffnungen und Aussichten? Der Mensch hofft eben so lange er lebt. Aber Aussichten? Die muss jeder erstmal selbst finden und erschließen können. Nicht alles Erhoffte und Ersehnte verwirklicht sich. Das wäre ja auch ein bisschen zu viel des Guten. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft immer ein riesiger Unterschied dem Menschen entgegen. Wünsche? Was hat sie, die Carla Fischer heute schon für besondere Wünsche? Sie wünscht sich nur, eine gute Mutter und für die Enkelkinder eine gute Oma zu sein, wünscht sich die innere Zuneigung ihrer Nächsten, den Gedankenaustausch mit ihnen und natürlich gute Gesundheit für alle lieben Menschen. Ja, dass es so bleiben möge, wie es zur Zeit ist… Die Stubentür fliegt auf, ein liebevoll strahlendes Frätzchen stürmt herein. Und schon ertönt Mischas freudiges Stimmchen: „Omi, komm Tee trinken!“

1986