ZWEI SCHWESTERN

Über den endlosen Steppenweiten scheint der Himmel so hoch und unberührt wie sonst nirgendwo. Herrlich sind die Frührotstunden zur Zeit, wenn die glücklichen Schulabgänger Hand in Hand durch die Straßen wandeln und mit frohen Liedern am Flussufer oder am Feldrain den anbrechenden Tag begrüßen. „Guten Morgen, Sonne!“ „Guten Morgen, Leute!“ Verhallt ist das letzte Klingelzeichen, zurückgelegt sind die kurzen Pfade der Kindheit. Die Jungen und Mädchen betreten den Kreuzweg der Jugendzeit, von woaus viele ungemein steile Trakte in die reifen Lebensjahre führen. Jana Wilde hat ihr Abitur mit guten Leistungen gemacht und hätte getrost eine Hochschule beziehen können, aber sie blieb im Dorf und wurde Melkerin. Schon immer wollte sie einen Beruf haben, wo man mit den Händen etwas schafft. Mit dem Kopf muss man ja heutzutage ohnehin überall arbeiten, ist doch klar wie dicke Tinte. Janas Eltern hatten eigentlich ganz andere Pläne bezüglich ihrer jüngsten Tochter. Sie sollte Hochschulbildung bekommen und in der Stadt arbeiten, sollte es besser haben wie die Eltern, die von früh bis spät auf dem Feld arbeiteten. Doch Jana wollte nicht bequem leben. Ein bequemes Leben wäre ihr zu langweilig gewesen. Sie war lebensfroh und offenherzig, konnte über sich selbst lachen, sich selbst korrigieren und nicht die Fehler stets bei den anderen suchen. Äußerte sie eine Meinung, dann meinte sie es auch so und nicht anders. Trotz eines leichten Anflugs von schwärmerischer Weichheit suchte sie das Risiko, wollte sich überall selbst durchboxen und suchte Möglichkeiten zur Bewährung. Nach Schulabschluss kam sie ins Kontor, legte dem Vorsitzenden ein Gesuch auf den Tisch und sagte: „Ich will Melkerin werden, kann schon ganz gut mit dem Melkapparat umgehn, und die Kühe liebe ich von Kindheit an.“ Zufrieden schmunzelnd, schrieb der Vorsitzende mit großen akkuraten Buchstaben quer über ihr Gesuch: Bewilligt. „Dumme Gans, die du bist“, herrschte Nina ihre Schwester an, als diese nach Hause kam und ihre Entscheidung mitteilte. „Mich haben sie wiederholt auf die Farm locken wollen, haben mir goldene Berge versprochen. Was wäre dort schon zu holen? Ha, ich bin doch nicht ohne, weiß genau, wie es den Melkerinnen so geht. Die müssen doch immerzu auf Trab sein, die Ärmsten.“ „Als ob du weniger auf Trab wärst. Nach Klimbim natürlich, da kann dich doch niemand überholen“, meinte Jana. „Manche Burjonka gibt zwei Eimer Milch auf einmal und gemolken wird zweimal am Tag. Die Gruppen sind groß, das verlangt dir ganz schön was ab, Mädelchen“. „Was du da sagst, ist nicht gerade weltumwerfend“, ruft Jana ungeduldig dazwischen. „Müsstest du nicht eine Metamorphose durchmachen und der neuen Lebensform Rechnung tragen, liebes Schwesterchen?“ „Ich bitte dich, rede keinen Stuss, Janalein. Bin kein Packeselchen wiedu, lasse mich nicht mir nichts dir nichts beladen und möchte lieber bald ein-gefangen sein in ein dichtmaschiges Ehenetz“, lachte die ältere Schwester. „Na, von wegen Eingefangensein! Du stellst doch selbst deine Netze aus, hast den Peter Lindau schon längst umgarnt“, parierte Jana. Es ist erstaunlich, wie Gereiztheit anstecken kann. Zwischen den Schwestern liegt tolle Spannung, und Nina kriegt vor Ärger rote Flecke am Hals und im Gesicht. Ihre blauen Augen werden hart und abweisend. Sie steht vor dem großen Wandspiegel, kämmt ihr üppiges rotblondes Haar und vermerkt schadenfroh, dass sie im Vergleich zu Jana ausgesprochen hübsch ist, einfach totschick in den hellblauen Jeans und der luftigen Bluse. Auch der Schmuck steht ihr gut und die weißen Zähne glänzen wie Perlen. „Gell, das ärgert dich, dass Peter mich liebt und nicht dich“, sagt Nina überheblich und triumphierend. Hier würde Jana gern widersprechen, aber sie beißt sich auf die Lippen und hütet sich, mit einem Schwupp eiskalter Ironie die ältere Schwester noch mehr zu reizen. Nina muss immer das letzte Wort behalten und liebt es, wenn alle in der Familie sich ihrem Willen fügen: der Vater, die Mutter, die Schwester. Nina machte den Eltern seit jeher mehr Sorgen als Jana, und oftmals fragten sich die Eheleute, woher wohl ihre Älteste diese Überheblichkeit, dieses Trachten nach Wertsachen, diese Gleichgültigkeit gegenüber der Arbeit hat? Beide Eltern haben ihren Töchtern nie ein schlechtes Beispiel gegeben. Sie waren unter denen, die nach Kasachstan ausgesiedelt wurden und hier ganz von vorn anfangen mussten. Tag um Tag, Jahr um Jahr arbeiteten sie gewissenhaft, haben nie geklagt und waren stets bestrebt, ihre beiden Kinder zu arbeitsamen und ehrlichen Menschen zu erziehen. Woher also diese Vornehmtuerei bei ihrem schönen großen Kind? Beharrligkeit, Ausdauer und Zielbewusstheit sind nicht Ninas Stärken. Den Eltern ist es nicht gelungen, ihr Achtung beizubringen vor den Menschen und ihrer Arbeit. Ein Tag vergeht, ein zweiter, ein dritter. Ein Monat vergeht, ein zweiter, ein dritter. Wenn Jana frühmorgens zur Arbeit eilt, ist es noch dunkel, nur ein schmaler Lichtstreifen weit hinter dem Horizont. In der Farm ist es hell, sauber und geräumig. Die Melkerinnen in weißen Kitteln und weißen Kopftüchlein, weiße Handtücher über den Schultern. Die Burjonkas, Sorjankas und wie sie alle noch heißen – nehmen das Streicheln, das vertrauliche Zureden der Melkerinnen als etwas Selbstverständliches hin, es ist ihnen bekömmlich, tut ihnen merklich wohl. Eimer scheppern und kleppern, schäumend läuft die Milch durch dünne Glasröhren in große weiße Behälter, wird filtriert, abgekühlt und fließt dann in die danebenstehenden Zisternen. Saubere gelbe Tankwagen mit der roten Anschrift „MOLOKO“ transportieren die Milch in die Stadt zu den Konsumenten. Mögen die elektrischen Melkanlagen auch noch so gut funktionieren- in jedem Falle wird manuell nachgemolken. Das fordert Kraft, Ausdauer, Geduld und Können. Die Lieferungspläne sind hoch, also ist jeder Tropfen Milch teuer. Klappt mal was nicht bei Jana oder bei ihren jungen Kameradinnen, springen die erfahrenen Melkerinnen sofort ein, stehen mit Rat und Tat zur Seite, vermitteln Erfahrungen. Eine für alle, alle für eine. Gearbeitet wird zielstrebig und beharrlich. Spätherbst. Erntefest. Nach den Feierlichkeiten- wie immer Konzert und Tanz im Dorfklub. Das Blasorchester spielt. Schallende Heiterkeit, Jubel und Trubel. Heiße Rhythmen dröhnen über den Köpfen, alles wirbelt und zwirbelt, poltert und scherzt. „Damenwalzer“, ruft der Klubleiter ins Mikrophon. Die Mädels schießen hoch von ihren Plätzen, manch eine kommt vor Eile aus Rand und Band: Beeilst du dich nicht, kriegst du keinen Tanzpartner. Nur Nina Wilde, die meistbegehrte schöne Tänzerin, hat es nicht eilig. Sie ist sich bombensicher, dass keine von den Dorfmädchen es wagen wird, den Peter Lindau zum Tanz einzuladen, denn Peter tanzt nur mit ihr, das wissen alle. Sie nimmt sich sogar noch Zeit, der jüngeren Schwester eine Bemerkung zu machen: „Du solltest dir mal was anderes ausdenken mit deinem Haar, Janalein. Immer diese nüchterne Schulmädchenfrisur. Einfach langweilig und peinlich. Bist kein Schulmädel mehr“. Jana hört diese Worte und hört sie auch nicht. Sie erhebt sich kurzent- schlossen und geht geradewegs auf Peter zu, der mit zwei hochgeschossenen Burschen neben der Tür steht und auf eine Einladung wartet. „Peter, wollen Sie nicht mal mit mir einen Walzer tanzen?“ fragt Jana leise und neigt den Kopf leicht zur Seite. Peter Lindaus Augen leuchten auf. Er nimmt Jana in die Arme und schon schweben die beiden im Walzertakt über das Parkett. Verwunderte, verblüffte, verurteilende und zustimmende Blicke folgten dem Paar und fragten: „Nanu, was ist denn da los? Wo bleibt denn die Nina?!“ „Die Damen wechseln die Herren!“ kommandiert der Klubleiter von der Bühne her. Die Scheinwerfer streuen bunte Strahlengarben in den Raum. Grüne, gelbe und rotgoldne Lichtflecken huschen über die Gesichter. Fröhlicher Tumult im Saal, flinkes Hin-und Hergleiten, Ulkerei und Scherz. Nina, umringt von einer Schar Anbeter, scheint lebhaft in ein Gespräch verwickelt zu sein und überhaupt kein Interesse für das geschehen auf dem Parkett zu haben. „Alle Damen wechseln die Partner, alle!“ befiehlt der Klubleiter, aber Peter läßt Jana nicht los und sie tanzen weiter und sind die Einzigen, die ihren Partner nicht gewechselt haben. „Wir haben es nicht gehört, du und ich, nicht wahr, Jana?“ flüstert Peter, und Jana nickt errötend und glücklich. Traumbeschwingt tanzen die beiden unter den berauschenden Tönen der Walzermusik. Beide denken: es ist so schön, wie es schöner nicht sein könnte. Beide wissen: ihre Herzen sehnten sich schon lange nach diesem Augenblick. Beide fühlen: vor ihnen liegt der Anfang eines großen Wunders, ein ganzes Menschenleben. Und die Welt ist sonnig, offen und freundlich und gütig…

1984