WIR HABEN ES NICHT GEWUSST

Oft träumt mir ein und derselbe Traum – mein Kinderland, mein Heimatdorf und die Kolchosjugendschule. Ich lege Prü­fungen ab und kann die auf dem Zettel stehenden drei Fragen nicht beantworten. Ich wühle in meinem Gedächtnis herum, aber dort ist es stockfinster und keine Spur von Wissens- vorräten ist in den Gehirnwindungen aufzustöbern. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich mal etwas gewusst habe. Auch kommen mir die ferflixten Formeln irgendwie bekannt vor – wo hab ich sie bloß gesehen? – doch finde ich keine Lösung und kann keinen Laut von mir geben. Der Prüfungszettel raschelt in meinen Händen. Das Rascheln wird immer bedrohlicher, verwandelt sich schließlich in einen Missklang ohnegleichen – und ich erwache. Mit dunklem Bedauern leuchtet mir langsam ein, dass alle Examen in meinem Leben schon längst abgelegt sind. Eine der Sehenswürdigkeiten in unserem Dorf war die zweistöckige Schule mit vier Klassenräumen, dem einer Zündholzschachtel ähnlichen Lehrerzimmer und der hölzernen Freitreppe. Werkstatt und Küche waren in einer Lehmkate im Schulhof untergebracht. Unser Leben bestand nicht nur aus Unterrichtsstunden. In der Schule gabs zu beliebiger Zeit immer viel zu tun, genau wie zu Hause oder auf dem Feld. In der Schulspeisehalle besorgten die Schüler alles selbst, vom Kochen bis zum Abwasch. Ordnung im Schulhof und in den Klassenzimmern war auch Schülerpflicht. Putzfrauen gab es keine in unserer Schule. Wir umsorgten den Schulpark, steckten Blumenbeete ab und hielten die Fußwege sauber, arbeiteten während der Ferien auf der Farm oder auf den Kolchosfeldern, veranstalteten Sportwettbewerbe und Spartakiaden, Liederabende und Theatervorstellungen. Durch grenzenlose Frechheit brachte unser Dramazirkel sogar Gogols „Revisor“ und Moliers „Der eingebildete Kranke“ auf die Dorfbühne. Dass die „Schauspieler“ den Ideengehalt dieser Meisterwerke damals verstanden haben, bezweifle ich heute stark, aber dass die Zuschauer sich in diesen Vorstellungen fast krumm und bucklig gelacht haben – dieses Faktum steht fest. Wir hatten gute Lehrer. Es sei mir hier erlaubt, dankbar ihre Namen zu nennen: Johannes Singer, Alois Haspert, Georg Schill und die Brüder Anton und Peter Laber. Die beiden waren jung und brachten frischen Wind und jugendliche Begeisterung in unser Schulleben. Wir hielten unsere Lehrer für außergewöhnliche Menschen und alles was sie umgab schien uns ebenfalls außergewöhnlich zu sein. Doch aller Eigenart entgegen war Anton Laber ganz der Unsrige. Lehrer Laber kam zu uns in die 7. Klasse , wo zwölf Augenpaare ihm entgegenstrahlten, und redete uns Dorfschlingel mit ,,Sie“ an, was uns unsagbar imponierte. Er unterrichtete in Chemie und Geographie, fühlte sich aber in allen Unterrichtsfächern wie ein Fisch im Wasser. Wenn jemand von den Lehrern plötzlich erkrankt war, fielen die Unterrichtsstunden nicht aus. Lehrer Anton Laber kam in die Klasse und fragte gewöhnlich: Wo seid ihr in Geschichte stehen geblieben? Oder: Welchen Paragraph habt ihr in Geometrie als Hausaufgabe denn aufbekommen? Irgendjemand von uns reichte ihm das aufgeschlagene Lehrbuch hin, und Lehrer Laber schaute nur flüchtig hinein, klappte das Buch so­gleich wieder zu und der Unterricht begann. Anton Laber wusste alles und konnte alles. Es war uns immer eine Riesenfreude, seinen Erläuterungen zu lauschen und ihm unendlich Fragen zu stellen. Er wurde nie ungeduldig und nahm uns oft in Schutz, wenn über die 7. Klasse mal geklagt wurde. Unwiderstehlich gewinnend war seine Art , sich mit den Schülern zu unterhalten. Je mehr Fragen, desto lieber war es ihm. Wir ließen auch in den Pausen nicht von ihm, begleiteten ihn bis zum Lehrerzimmer und standen noch vor der Tür herum , bis es zur nächsten Stunde läutete… Als Lehrer Anton Laber eines der schönsten Mädchen unseres Dorfes heiratete, wurden wir Schulmädels brennend eifersüchtig auf diese Glückliche. Ob sie aber glücklich war? Unser Lehrer steckte tage- und abendelang in der Schule, wo ihn alles anging, wo ihn alle brauchten, wo er immer unentbehrlich war. Nach Beendigung der Kolchosjugendschule fuhren sechs von uns zwölf Absolventen nach Saratow, bestanden erfolgreich die Aufnahmeprüfungen an der Fremdsprachenfachschule und wurden immatrikuliert, worauf der ganze Kolchos stolz war. Als wir nach den Prüfungen für eine kurze Zeit in unser Heimatdorf als frischbackene Stu­denten zurückkehrten, war unser geliebter Lehrer Anton Laber tot. Er war schwer herzkrank, wir haben es nicht gewusst und schonten ihn nicht… Wir gingen zum Friedhof und legten einen Strauß roter Rosen auf den frischen Grabhügel…

1984