Es gibt Städte, die einem im Gedächtnis bleiben, solange man lebt. Es gibt Menschen, die man – einmal ihnen begegnet – nie wieder vergessen kann, so stark ist ihre Anziehungskraft und der von ihnen ausgehende Liebreiz. Und es gibt Erinnerungen, dunkle wie sternlose Spätherbstnächte, helle wie warme Sonnenstrahlen. Hochsommer. Goldene Tage. Die Bäume stehen in herrlichem Blätterschmuck. Menschenhohe Georginen wiegen ihre prunkvollen Köpfe und bilden sich nicht wenig ein auf ihre Schönheit. Sommerlich duftet die Erde. Sonnenheiß glühen die Dreiecke der Blumenbeete und es scheint, berührt man sie nur flüchtig mit der Hand, man verbrennt sich die Fingerspitzen an diesem flammenden Rot. Auf einer Gartenbank im Park sitzt seitwärts eine kleine mollige Frau mit faltendurchwühltem Gesicht und beobachtet innerlich bewegt das unermüdliche Treiben der frohen Kinderschar an den Schaukeln und Karussellen. Sie lauscht den selbstsicheren Gesprächen der überall umherstehenden, wohlgenährten und gutgekleideten Eltern und Großeltern. Plötzlich schließt die kleine Frau die Augen und sieht wieder ganz deutlich die Kriegszeit auf sich zukommen. Damals stand sie zusammen mit vielen anderen deutschen Mädchen und Frauen an der Arbeitsfront im Hohen Norden bei Archangelsk. Unter dem schonungslosen nördlichen Himmel, der sie täglich mit Regen-schauer oder kaltem Schneegemisch übergoss, arbeiteten sie, oftmals bis an die Knie im kalten Morast steckend, von frühmorgens bis spätabends für die Front, für den Sieg. Alles was ihnen einst lieb und teuer war – Bücher und Musik, friedliche Arbeit und Geborgenheit, Familie, Freundschaft und Liebe – alles war bedroht vom Krieg, war zurückgedrängt von dem rastlosen Schaffen bei Regen, Wind und Schneegestöber. Sie dachten damals nur noch an die Brotkante und die heiße Brennesselsuppe, die sie zweimal am Tage zu essen bekamen, und an die verhassten faschistischen Angriffstruppen, denen der Weg versperrt werden musste… Ohne jeglichen Zusammenhang erinnert sich die Frau an die seelische Erschütterung, die sie ergriffen hatte, als sie zum erstenmal abends ihre Arbeitsgenossinnen leise singen hörte in der grauen Holzbaracke: Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus. Da zog ich manche Stunde ins Tal hinaus… Wie hat sie damals geweint! Wo sind sie heute, die lieben, unvergessenen Trudarmistinnen? In welchen Himmelsrichtungen sind sie zerstreut? Die kleine Frau mit dem runzligen Gesicht schlägt langsam die Augen wieder auf und kehrt zurück in die Wirklichkeit. Der Tumult um die Karusselle und Schaukeln ist noch stärker geworden. Sie bemerkt ein spöttisches Lächeln auf den Gesichtern ihrer Banknachbarinnen. Aha, denkt sie, die guten Leute glauben, ich hätte da ein Nickerchen gemacht! Behende erhebt sie sich und schließt sich dem flanierenden Menschenstrom an. Alle spazieren paar- und gruppenweise, sie aber wandelt allein daher und fühlt sich sonderbar beklommen in dieser Umgebung. Auf einer der vielen Bänken sieht sie einen freien Platz. Sie steuert drauflos und setzt sich entschlossen. Ihr gegenüber steht umringt von buschigen Pappeln eine kerzengerade Kiefer. Kein Baum kann so erhaben schweigen wie die Kiefer, sinniert die alte Frau, und ihre Gedanken schweifen wieder ungeahnt hinüber in die Jugendjahre… Sommer 1936. Sie war zu kursfristigen Lehrerkursen nach Engels gekommen und besuchte in der Freizeit alle Vorstellungen des Deutschen Staatstheaters. Karl Nichelmann, Leo Gläser und Nikolai Baumann, Herta Jörsch und Adelina Hein – diese ganz großen Sterne am damaligen Theaterhimmel haben sie damals um Ruhe und Schlaf gebracht und ein herrliches Feuer in ihrem Herzen entzündet. Zufällig erfuhr sie, dass das Deutsche Theater junge Menschen für die Bühne wirbt. Prüfungszeit und Aufnahmebedingungen waren im Inserat angegeben. Sie rollte sich das Haar auf, pinselte ihre Leinenschuhe blütenweiß an, bügelte sorgfältig ihr cremefarbenes Markisettenkleid, das mit den luftigen Flügelärmeln, die damals große Mode waren. In der Vorhalle des Theaters hatte sich eine beträchtliche Gruppe Bewerber versammelt, die alle insgeheim sich schon als Schauspieler des Deutschen Theaters wähnten. Sie bekam Angst. Ihr wurde siedend heiß. Um sich zu beruhigen, betrachtete sie die an den Wänden ausgehängten Lichtbilder der Schauspieler und fand alle strahlend schön und bezaubernd. Eine breite Tür wurde lautlos geöffnet, alle Anwärter drängten sich in den großen dunklen Saal hinein, und sie drängte sich mit. Die Mitglieder der Prüfungskommission waren schon auf ihren Plätzen, und die Arbeit begann sofort. Einer nach dem anderen traten die Bewerber auf die Bühne. Es wurde gesungen, getanzt, rezitiert und phantasiert. Angebotene Etüden wurden vorgespielt. Was es da nicht alles gab! Da ist dem einen das Dach überm Kopf abgebrannt, da hat einer seine Geldbörse verloren und steht mutterseelenallein in einer weltfremden Stadt, da ringt eine verzweifelt die Hände und kreischt durchdringend „Bleib! So bleib doch!“ Endlich kommt die Reihe auch an die junge Dorfschullehrerin. Sie steht auf der Bühne und weiß nicht, wohin mit dem selbstgehäkelten Ding, das sie aus einer Hand in die andere überschiebt. Ich bin verloren! blitzt es ihr durch den Sinn. Eine gestrenge Stimme aus der Kommission: „Legen Sie die Tasche weg!“ Schwungvoll wirft sie das Täschlein hinter die Kulissen, macht einen Schritt vorwärts zum Proszenium und beginnt zu ihrem Schreck in überspanntem Ton: „Im wunderschönen Monat Mai, Als alle Knospen sprangen, Da ist in meinem Herzen Die Liebe aufgegangen. Im wunderschönen Monat Mai-“ „Danke. Ihre nächste Nummer bitte.“ Sie schaut hilfesuchend in den dunklen Saal, ihre Hände fliegen unerwartet zur Stirn hinauf und wischen schnell die kalten Schweißtropfen ab. Sie beginnt unsicher zu sprechen, und ihre Stimme zittert verräterisch: ,,In den Silberhütten habe ich, wie oft im Leben, den Silberblick verfehlt. In der Münze traf ich es schon besser und konnte zusehen, wie das Geld gemacht wird. Freilich, weiter hab´ ich es auch nie bringen können. Ich hatte bei solchen Gelegenheiten immer das Zuschauen, und ich glaube, wenn mal die Taler vom Himmel herunter regneten, so bekäme ich davon nur Löcher in den Kopf…“ An dieser Stelle wurde ihr das Wort abgeschnitten: „Genug. Sie sind frei.“ Da schaltete sich eine weiche Frauenstimme ein: „Singen Sie uns bitte eine beliebige Strophe aus einem Lied vor, nach Ihrer Wahl.“ „Singen? Für wen? Da hört doch niemand zu!“ rief die Dorfschullehrerin entrüstet und sprang von der Bühne aus direkt hinunter in den Zuschauerraum. Verloren! Alles verloren! stöhnte es in ihr, und sie musste sich tüchtig zusammennehmen, um nicht loszuheulen. Erschöpft lehnte sie sich an den Türpfosten. Worauf warte ich noch? Ist doch alles klipp und klar, ich bin nicht unter den paar Glücklichen, die ankommen, dachte sie betrübt und tief enttäuscht. Ein hochgewachsener Mann mit seltenen Silberfäden im dunklen Haar brachte ihr das unglückselige Handtäschchen. Sie nickte dankend und wandte sich erschrocken ab. Sie hatte ihn erkannt, den Mann mit der strengen Stimme. Er sagte versöhnend zu ihr: „Sie sind jung, und vieles in Ihrem Leben wird sich noch ändern. Glauben Sie nie, alles sei verloren. Ein Fehlschlag ist auch Gewinn trotz alledem. Fürchten Sie sich nicht vor Misslingen, arbeiten Sie weiter. Arbeit steht über allem, was es auf Erden gibt. Und kommen Sie nächstes Jahr wieder.“ Sie hat keinen zweiten Versuch am Theater gemacht. Aber die Worte des berühmten Schauspielers hat sie gut im Gedächtnis behalten. Das Leben hat ihr die Wahrheit dieser Worte noch oftmals bestätigt.
1984