SCHÖNCHEN

Mein letztes Schuljahr verbrachte ich in der Antonower Kolchosjugendschule. In unsere Abgangsklasse kam eine neue Sprachlehrerin, eine Zugereiste aus der Gebietshauptstadt. Bisher hatten wir nur Lehrer aus der Mitte unserer Landsleute, meist alles bejahrte ernste Männer, die nicht nur uns Schüler, sondern auch unsere Eltern durch und durch kannten. Auch wir kannten unsere Lehrer und ihre Lebensweise, waren sie doch ehrliche arbeitsame und unseren Vätern und Brüdern ähnliche Menschen. Jeder von ihnen war uns ein gutes Vorbild. Nun aber die Neue, die erste und einzige Frau in unserer Schule. Die neue Lehrerin trat am 1. September vor unsere Klasse und sagte mit inniger Stimme: „Guten Morgen, liebe Freunde. Ich heiße Elvira Leonidowna.“ Und sie schenkte uns ein leichtes, wohlwollendes Lächeln und einen sonnigen Blick ihrer graugrünen Augen. Sie fragte uns nach Namen und Vornamen, wofür wir uns interessierten, wo unsere Eltern arbeiteten usw. Dann erst begann der eigentliche Unterricht. Die junge Lehrerin sprach begeistert und bildhaft, die literarischen Helden standen wie lebend vor unseren Augen, waren beseelte Geschöpfe. Wir stellten viele Fragen an Elvira Leonidowna und schrieben gründlicher als sonst die Hausaufgaben in unsere Hefte. Als das Glockenzeichen ertönte, waren wir fest überzeugt, dass die Pause viel zu früh angeläutet wurde. Dieses Gefühl hatten wir nachher immer in den Literaturstunden. „Ihr Männer, das Schönchen kann was!“ rief unser Klassenhumorist Emil Noak aus, als die erste Stunde zu Ende war. So wurde Elvira Leonidowna zum Schönchen für uns. Sie war klein von Wuchs, grazil und sachlich. Bis dahin hatten wir noch nie erlebt, dass jemand so festlich zur Stunde erschien. Die Festlichkeit kam nicht so sehr von dem gutsitzenden, aus feinem dunkelblauen Wollstoff gearbeiteten Kostümrock und der blütenweißen Bluse unserer Lehrerin, als vielmehr von dem zartblassen Gesicht mit den vertrauensvoll blickenden Augen, von dem dichten, rötlich schimmernden Lockenhaar, von dem warmen Klang der Stimme. Wir fühlten, Elvira Leonidowna war da, um zu arbeiten, uns zu erziehen, uns alles Gute zu lehren: Ordentlichkeit, Sauberkeit, Ehrlichkeit und Umgänglichkeit. Arbeit bedeutete für sie gleichzeitig Feiertag und Freude. „Schönchen kommt, Schönchen kommt!“ jubelierten wir jedesmal, sobald ihre leichten Schritte im Korridor hörbar wurden. Mäuschenstill wurde es in der Klasse, nur draußen vor den Fenstern rauschte der Wind in den Zweigen der Pappeln in unserem gepflegten Schulgarten. Gewöhnlich schob Elvira Leonidowna den Stuhl etwas weg vom Tisch und setzte sich, den engen dunklen Rock mit einer leichten Bewegung der linken Hand zurechtstreichend. Dann schlug sie das Klassenbuch auf, schenkte uns ihren aufmerksamen graugrünen Blick, und die Stunde begann. Wenn Elvira Leonidowna erzählend durch die schmalen Bankreihen dahinschritt und mal den einen oder den anderen sinnend anschaute, streifte uns ein kaum vernehmbarer, geheimnisvoller Parfümduft – es war ,,weißer Flieder“, wie wir später erfuhren. Auf unsere errötendenden Wangen fiel ein zarter Abglanz von der schneeweißen Bluse unserer Lehrerin, und wir schienen uns selbst für einen Augenblick merkwürdig anmutig und schön. Jeder von uns wartete mit ungeduldiger Beklommenheit auf diesen wundervoll reizenden Parfümduft, auf den Silberklang der Stimme . Wir waren bezaubert und mitgerissen von der vergnügt feierlichen Arbeitsatmosphäre, die unsere junge Lehrerin mühelos, wie wir damals glaubten, zu schaffen wusste. Elvira Leonidowna hatte uns durch ihr Äußeres und ihr Benehmen fasziniert und gewonnen, und unser Interesse an ihren Unterrichtsstunden wie auch an ihrer Persönlichkeit wurde zur Grundlage schrankenlosen und unbeirrten Vertrauens zu ihr. Sie verhielt sich immer ausgeglichen und fürsorglich, niemals hat sie moralgepredigt, niemals „gedonnert“, niemals mit dem Zeigestab auf den Tisch geklopft. Sie brauchte das einfach nicht, denn wir konnten aus ihren Stunden so viel Sonniges, so viel wahrhaft Menschliches schöpfen, dass niemand an Schabernack denken mochte. Oft begleiteten wir Mädchen Elvira Leonidowna von der Schule nach Hause – sie wohnte bei einer alten alleinstehenden Frau in Untermiete – und manche von uns unterdrückte in ihrem dörflichen Herzchen ein unbegreiflich naives Neidgefühl: Warum ist man nicht auch so schmuck und schlank, so hübsch und klug wie unser Schönchen? Daheim hörte man nicht auf, an sie zu denken, von ihr zu sprechen. Man wartete mit sehnlicher Freude auf die nächste Literaturstunde und träumte von unbekannten fernen Welten, von der rätselhaft schönen Stadt, wo unsere Lehrerin zu Hause war… Eines Morgens im Spätherbst kam Elvira Leonidowna nicht zur Schule. Erst in der dritten Stunde sagte uns der Schuldirektor, Elvira Leonidowna sei krank, und statt deutsche Literatur würden wir einstweilen Mathematik haben. ,,Immer Mathe, Mathe“, brummten wir enttäuscht. Einige Tage später trabten wir im Gänsemarsch ins Rayonzentrum, über 20 Kilometer von unserem Dorf entfernt, und besuchten unsere Lehrerin im Krankenhaus. Wir brachten ihr einen ganzen Berg rotbäckiger Äpfel und die allerletzten Astern, die wir in unsren Vorgärten noch auftreiben konnten. Die Zeit eilte dahin. Wir warteten und warteten auf Elvira Leonidowna und fühlten uns einsam wie nie im schwermütigen Grau der letzten Herbsttage. Erst nach drei Wochen erschien Elvira Leonidowna wieder in unserem Dorf. Einmal vergass sie nach der letzten Stunde ihr Buch in der Klasse. Wir brachten es ihr ins Lehrerzimmer, aber sie war schon weggegangen, und wir eilten ihr nach. An ihrer Haustür hing ein großes Schloss. Wir setzten uns hin und warteten. Jemand von uns schlug zum Zeitvertreib das Lehrbuch auf – und herausfiel ein doppelt zusammengefalteter, mit Schönchens zierlicher Handschrift beschriebener Papierbogen. Er sollte ja gleich wieder im Buch verschwinden, jedoch die Hand, die in aufgehoben hatte, stockte für eine Sekunde, und zwei scharfe junge Augen stießen auf das Wort „Dorftölpel“ und blieben daran haften, bis ein mehrstimmiger Ausruf „Na was isch los? Was hascht dann du??“ sie verwirrt zur Seite gleiten ließ. Im Nu drängten sich alle an die Unglückselige, die aber stotterte völlig verstört: „Liewi Zeit, Madle… Guckt emol… was die… iwa uns schreibt…“ Wie kam es nur, dass wir plötzlich zusammengekuschelt unter der alten Linde saßen und ohne uns vorerst abgesprochen zu haben, mit zitternden Händen den Brief, den fremden Brief entfalteten? Wir wussten genau, fremde Briefe liest man nicht, das ist unanständig, aber wir konnten uns von den Zeilen nicht mehr losreißen. Der Brief begann mit den Worten „Mein allerliebster Woldi“ und berichtete über etwas, das ihr beinahe das Licht ausgeblasen hätte, und das nun glücklicherweise abgeschüttelt wäre. Sie fiebere jetzt einem baldigen Wiedersehen in der Stadt entgegen. Darauf folgte ein spöttischer „Bericht“ über unsere Schule, unser Dorf, unsere Leute: es wimmle nur so von Lulatschen, Blödhansen, Trotteln und Drallbasen. Und ganz unten stand fein und zierlich: Deine Elvi. Ach, wir waren betrogen, waren verraten, vernichtet, zerquetscht… Und von wem?.. Am nächsten Morgen saßen wir wie auf glühenden Kohlen auf unseren Plätzen in der Klasse , als zur ersten Stunde geläutet wurde. Schweigend erhoben wir uns und schoben eine eiskalte Scheidewand zwischen uns und den Lehrertisch. In schneeweißer Bluse und dunkelblauem Kostümrock trat Elvira Leonidowna ein, rückte den Stuhl etwas weg vom Tisch, schlug das Klassenbuch auf und schaute uns fragend an. Eiserne Stille im Raum. Wortlos trat die Klassenälteste vor, legte das Lehrbuch auf den Tisch, darauf den entfalteten Brief, schaute die Lehrerin nicht an und ging zurück an ihren Platz in der letzten Reihe. Elvira Leonidowna errötete dermaßen, dass ihr blütenweißer Blusenkragen rötlicher schimmerte als ihr kurzes Lockenhaar. Dann fasste sie sich schnell, musterte uns abschätzlich mit ihren jetzt kalten graugrünen Augen und sagte leise, mit kühler Verachtung: „Pfui, wie schamlos von euch…“ Bedrückende Stille im Klassenraum. Die Lehrerin wollte keine Auseinandersetzung mit uns , auch wir wollten nichts mehr von ihr hören. Sie stand eine halbe Stunde abgewandt am Fenster, schrieb uns dann die Hausaufgabe an die Tafel und ging lang vor dem Klingelzeichen aus der Klasse… Also war unsere Schule nur ein zeitweiliger Unterschlupf und all das Freundliche, Wohlwollende – Künstelei?.. Nie wieder trauten wir „Schönchen“; ja, von da an gebrauchten wir dieses Wort in Gänsefüßchen und glaubten uns im Recht, wenn wir jetzt öfters ihre Stunden schwänzten. Und niemand weinte ihr nach, als sie Ende Mai unser Dorf auf Nimmerwiedersehen verließ.

1975