AIBEK

Es ist eine nicht sehr originelle Geschichte, die ich da erzähle, aber in meiner Lehrerpraxis ein ziemlich denkwürdiges Ereignis. Ich arbeitete damals als Deutschlehrerin in der kasachischen Abai-Mittelschule in Pawlodar. Nach den Herbstferien kam in meine Klasse ein neuer Schüler. Er war kein Musterknabe, sass schon das zweite Jahr in der 7. Klasse und hatte in mehreren Fächern schlechte Noten. Auch in Deutsch. Den brauche ich gerade noch in meiner Klasse, die ohnehin aus 29 Jungen und nur 10 Mädchen besteht, dachte ich besorgt und ging missmutig in mein Klassenzimmer. Während der Deutschstunde sass der Neue in der hintersten Bank und schaute zum Fenster hinaus. Auf meine Frage, wie er heiße, antwortete er nicht. Entweder verstand er kein Wörtchen Deutsch, oder war Deutsch für ihn ein Klotz am Bein. Ich wartete. Die ganze Klasse wurde aufmerksam. „Atyn kim? Atyn kim?“ (Wie ist dein Name?) wollten alle ihm aus der Patsche helfen. Ich wartete auf Antwort. Der Junge erhob sich unwillig und brummte etwas vor sich hin, wobei er mich von Kopf bis Fuß mit spöttischem Blick musterte. Er war einen ganzen Kopf höher als ich. „Setz dich, Aibek. Schlag dein Lehrbuch auf“, sagte ich freundlich, obwohl ich bereits wusste, dass er weder Heft noch Buch mitgebracht hatte. Federleicht und vogelfrei hatte Aibek sich in der letzten Bank niedergelassen, um Schabernack zu treiben. Er ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Kaum hatten wir die Hausaufgaben geprüft, da hob die fleißige Rauschan ihr sauberes Händchen und piepste erschrocken: „Mugalim(Lehrer)! Der Neue hat mir einen Klecks ins Heft gesetzt!“ „Ui, Osikschi (Klatschbase)“, zischte es hörbar von der letzten Reihe her, und alle lauschten dem Gezische mit sichtlichem Vergnügen. Nach einigen Minuten – wir waren gerade bei den neuen Vokabeln ange- kommen – da bemerkte ich Bibis aufgeworfene Hand und ihr leicht verwirrtes Gesicht. „Nicht begriffen, Bibigul?“ fragte ich leicht erstaunt, denn unsere Bibi war Bestschülerin und wusste immer alles im voraus. Sie wollte Deutschlehrerin werden – und ist es später auch geworden. „Mugalim, der Neue schießt auf mich mit einem Papierpfeil, sobald Sie sich abwenden“, gestand Bibigul kleinlaut. „Du Osikschi!“ parierte die letzte Bank, in der soeben eine Schleuder verschwunden war. Aibek schaute harmlos drein. Mein vorwurfsvoller Blick verwirrte ihn kaum merklich. „Und was ist dabei?“ versuchte Aibek die Sache zu bemänteln. „Warum schielt sie immer her zu mir mit ihren Telleraugen?“ Schallendes Gelächter, beinah hätte ich selbst mitgelacht. Nicht schlecht aufgespießt, Aibek! Unsere Bibigul schielte wirklich ein bisschen und ihren großen braunen Augen lag das Wasser immer so nah… Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und führte das neue Thema ein. Dann folgten Fragen. Auch an Aibek. Der aber hatte keine Zeit zuzuhören. Er musste der braven Scholpan die Schulmappe an den rabenschwarzen dicken Zopf festbinden. Das war für ihn im Augenblick sehr wichtig. „Mugalim, nun hat der Neue…“ „Mugalim! Der Neue…“ „Mugalim!!!“ Wie oft musste ich diesen Klageruf noch hören, auch als Aibek schon längst kein Neuer mehr war. Bolat, der größte Faulpelz auf Erden, aber immer schön brav und still, schmunzelte zufrieden. Es gab also auch schlimmere Burschen als er! Nach dem Unterricht rannte Aibek gewöhnlich als erster aus der Klasse, lief lärmend die Treppe hinunter, sauste über den Schulhof, schwang sich über den Zaun und war im Nu auf der Straße. Bald hatte er sich völlig „entpuppt“. Alle Lehrer klagten im Lehrerzimmer über seine tollen Streiche, alle konnten ein Lied davon singen, und mir schien, jeder Klassenleiter war froh, dass Aibek nicht in seiner Klasse sass. Niemand erwartete etwas Gutes von ihm. Einmal hatte er den Bestschülern auf der Ehrentafel rote Schnurrbärtchen angemalt, ein anderes Mal hinterließ er an der Klassentafel eine Karikatur mit riesigen Guckrädern auf der breiten Nase – und alle erkannten sofort den Mathelehrer und kicherten belustigt ins Fäustchen. Aibek hatte in fast allen Schulfächern schlechte Noten und ich bekam eine strenge Rüge vom Schuldirektor. Auch Aibek musste dem Direktor eine „Visite“ abstatten. Aibek schwänzte oft die Stunden und es kostete mich nicht wenig Mühe und Geduld, ihn in die Schule zurückzubringen. Er hatte sich nämlich die Abendschule in den Kopf gesetzt, mit seinen kaum fünfzehn Jahren. Zu Hause war er der einzige Sohn in der Familie und es ging ihm recht gut unter den älteren Geschwistern. Eines Morgens sass Aibek schließlich wieder auf seinem Platz in der 7b. Er benahm sich nun erträglicher, und wir Lehrer atmeten erleichtert auf. Wir begannen mit frischem Mut und vereinten Kräften die Erziehungsarbeit um Aibek zu forcieren. Er verbesserte einigermaßen seine Noten in Kasachisch und Mathe. Ich konnte endlich wieder ruhig schlafen. Aber dann geschah etwas Unerhörtes, Unverzeihliches, etwas Präzedenzloses. Wir hatten eine Klassenversammlung. Die Klassensprecherin hatte soeben den Rapport erstattet, da erschallte von irgendwoher freudiges Gebell. Alle drehten sich ruckhaft um. Eine Lachsalve rollte durch die Klasse. Die mühevoll vorbereitete Klassenversammlung war dahin. Schade um die feierliche Stille, schade um die Klassenleiterin. Aibek wurde streng bestraft. Aber eins musste man ihm schon lassen: er hatte meisterhaft gebellt. Ein Imitator von Rang hätte es wohl kaum besser machen können. Überhaupt konnte er mancherlei, der Aibek. Bemerkenswert war, dass er sich nicht mit dem schlaksichen Bolat, sondern mit dem tiefernsten Nurlan anfreundete. Am liebsten aber saß er allein in der Bank und schaute verträumt zum Fenster hinaus. Einmal machten wir wie üblich eine schriftliche Lückenübung. Vokabelhefte raschelten, Füller kratzten, spitzbübische Blicke schweiften hin und her, Köpfe wurden heimlich zusammengesteckt. Auch Aibek kritzelte emsig. Als er mir sein Heft zur Kontrolle überreichte, schaute er mich triumphierend an. Ich schlug das Heft auf und war plötzlich ganz baff: anstelle der Gedankenpunkte, die mit sinngemäßen Wörtern im entsprechenden Kasus ersetzt werden sollten, hatte Aibek Pistolen, Maschinengewehre, Bajonette und Panzer winzigklein hineingemalt. Alles rauchte, schoss und explodierte, Erdklumpen flogen in die Luft, Menschen stürzten zu Boden. Die Zeichnungen waren unverkennbar gut, aber in Deutsch bekamm Aibek dennoch eine schlechte Note. Zur nächsten Deutschstunde hatte ich die in Alma-Ata erscheinende deutsche Zeitung ,,Freundschaft“ mitgebracht. Wir lasen auf der Kinderseite einen Beitrag über den heldenhaften Kampf des vietnamesischen Volkes und über einen Jungen, der verwundet im Krankenhaus lag und oft traurig fragte: „Was habe ich den Amis getan? Warum muss ich blind sein?“ Wir lasen auch über orangenähnliche Bomben, die natürliche Früchte vortäuschten und bei der leisesten Berührung explodierten… Die ganze Klasse hörte gespannt zu. Aibek sass neben Nurlan. Seine schräggeschnittenen schwarzen Augen funkelten entrüstet. Nach der Stunde – es war die letzte an jenem Tag – wollte niemand nach Hause gehen. Meine Schüler beschlossen, einen Brief nach Hanoi zu schreiben an die vietnamesischen Kinder. Sie sollten auf der Hut sein, sollten sich nicht täuschen lassen von den amerikanischen „Orangen“. Den blinden Jungen trösteten sie wie sie konnten und sprachen die Hoffnung aus, dass die Ärzte ihm unbedingt helfen würden und er bald wieder sehen könnte. Alles würde wieder gut… Sie verfassten ihren Brief in russischer Sprache – so sei es besser, meinten sie. Russisch verstehen heute alle Menschen auf der Welt, schlussfolgerten sie. Jeder wollte dem Schreiben etwas beifügen oder daran manches ändern. Es wurde gekürzt und gestrichen, dazugefügt und nachgebessert. Bibigul musste den Brief ins reine schreiben und ihn dann laut vorlesen. Alle saßen mucksmäuschen still da und hörten aufmerksam zu. Dann entbrannte ein heftiger Streit wegen der Adresse. Schließlich fassten sie sich kurz: Vietnam. Hanoi. Schule Nummer l. In jeder Stadt gibt es eine Schule Nummer 1, erwägten sie , und sie hatten wohl recht. Ich hegte heimliche Zweifel, ob der Brief dort ankommen würde. Dort war doch Krieg… Gemeinsam gingen wir zur Post und Aibek durfte den Brief in den Postkasten werfen. Von diesem Augenblick an, als der Brief im schmalen Spalt verschwunden war, warteten wir ungeduldig auf Antwort… Unsere Klasse war wie verwandelt: Die Jungen rannten nicht Hals über Kopf durch den Korridor, die Mädchen kreischten nicht mehr wegen jedem Bubenstreich , die Tafel war immer sauber, die Klasse gelüftet, die Hausaufgaben gemacht. Aibek hatte sich Nurlans deutsch-russisches Vokabelheft erbettelt und den Wortschatz fürs ganze Schuljahr in sein Vokabelheft eingetragen. Er verbesserte seine Noten in Deutsch, zeigte aber seine Freude nicht und fragte wie nebenbei, womit wir uns im Deutschzirkel denn beschäftigten. „Nun, wir üben deutsche Liedlein ein, spielen verschiedene Sprach spiele, lösen kniffige Rätsel, fertigen Anschauungsmittel an, lesen gemeinsam die Kinderecke im „Neuen Leben“ und in der „Freundschaft“, stehen im Briefwechsel mit anderen Deutschzirkeln und geben eine deutsche Wandzeitung heraus“, sagte ich. „Und gemalt wird nicht?“ wollte Aibek wissen. „Doch, gemalt wird auch, und wir brauchen dringend einen Maler. Hör mal, Aibek. Das wäre doch was für dich. Komm bitte am Mittwoch zur Zirkelbeschäftigung, gut?“ „Vielleicht komm´ ich“, antwortete er und verabschiedete sich auf Deutsch: Auf Wiedersehen. Aibek kam am nächsten Mittwoch zur Zirkelsitzung – und blieb. Bald wurde er zum unentbehrlichen Mitglied des Redkollegiums. Er war kein Musterknabe geworden. Nein. Aber er hatte außer dem Schulunterricht eine interessante Aufgabe und zum Schabernack blieb wenig Zeit übrig. Viele Jahre später traf ich Aibek ganz unverhofft wieder. Er lebte mit seiner Familie in Alma-Ata, arbeitete als Plakatmaler in einem Kinotheater und war zu Besuch in seiner Heimatstadt Pawlodar.

1979