VERTRAUEN

Walli war ausgegangen. Die Mutter saß am Küchentisch dem Vater gegenüber und wartete geduldig, bis dieser sein Abendbrot gegessen hatte und schon die Hand nach der Zeitung ausstreckte. „Arno, ich hab was zu besprechen mit dir, was Wichtiges“, sagte die Mutter. „Na, wo brennt´s denn wieder? Lass mich wenigstens die Zeitung durchgucken.“ „Die Zeitung kann warten, brauchst keine Angst zu haben. Das ist immer so mit dir – erst die Zeitung, dann Fußball oder Eishockey im Telik, und für die Familie hast du nie Zeit.“ „Ich höre gespannt zu, hab aber noch nichts Wichtiges gehört“, brummte der Vater, die Schlagzeilen überfliegend. „Unsre Walli kriegt Briefe ohne Rückadresse.“ „Ist das schlimm?“ „Na, denkste wohl nicht? Ein ehrlicher Mensch würde seinen Namen nicht verheimlichen. Das steht sicher.“ „Hm…hm…“, murmelte der Vater abwesend und versuchte weiterzulesen. „Arno, wollen wir doch zusammen nachdenken und handeln! Sag mal, wer könnte der Walli schreiben?“ „Ja, wer eigentlich?“ meinte der Vater achtlos und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. „O, wenn ich das wüsste! Glaub mir, Arno, ich hab die Nachtruh schon verloren… Ich weiß, wo Walli die Briefe versteckt. Vielleicht lesen wir einen, den letzten…“ „Anna!“ „Du hast gut reden. Gehst morgens auf Arbeit, kommst abends ruhig heim, liest deine Zeitung und guckst Fernsehen. Oder du bist wochenlang auf Dienstreisen. Was deine Tochter treibt, das geht dich nichts an“, schluchzte die Mutter. „Walli lernt in der 10. Klasse, ist eine gute Schülerin, gehorcht und hilft dir in allem. Und du machst da eine Tragödie wegen einem persönlichen Brief.“ „Wegen einem? Ha, ein ganzer Haufen ist´s . Und von einem Betrüger. Ich hab mit Walli gesprochen, hab sie ermahnt, uns mehr Vertrauen entegenzubringen. Wir können ihr doch immer mit gutem Rat beistehen. Und weißt du, wie die mich angeschnauzt hat?“ „Na, was hat sie denn gesagt?“ „Mama, hat sie gesagt, wenn ich deinen Rat brauche, werd ich schon fragen.“ „Molodez, die Walka!“ „Du machst dir das Leben zu leicht, Arno. Wenn aber dieser Brief, will sagen, dieser Briefschreiber…“ „Lass das, Anna. Unsere Tochter ist ein kluges Mädel und weiß selbst, was sie tun oder lassen soll. Ich vertraue ihr und baue auf ihre Vernunft“, erwiderte der Vater friedlich, ging in die große Stube und schaltete den Fernseher ein: Das Fußballtreffen begann. Seit Anfang des letzten Schuljahrs bekam Walli oft Briefe. Aber nicht nur das quälte die Mutter. Walli selbst war es, die ihr die größten Sorgen machte. Das sonst so ernste und bescheidene Mädchen drehte sich jetzt stundenlang vor dem Spiegel herum und betrachtete sich kritisch und anspruchsvoll. Sie bemalte sich die Augenlider mit irgendwelchem Himmelblau, dadurch bekamen die Augen einen gefährlich schwärmerischen Ausdruck, schienen ungemein groß und strahlend zu sein, und die Mutter beeilte sich gewöhnlich zu sagen, dass derartige Schminkereien abstoßend wirken, besonders an jungen Mädchen. Die Tochter nahm sich das nicht sehr zu Herzen. Eines Tages kam sie sogar ohne ihre blonden Zöpfe nach Hause. Sie hatte sich im Frisiersalon eine modische Schüttelfrisur schneiden lassen und sah recht nett aus. Der Bubikopf stand ihr gut, aber die Mutter ließ es nicht gelten und schimpfte, und jammerte und weinte: „Deine schönen Zöpfe… solche werden dir nie wieder wachsen, du dummes Ding. Hättest sie wenigstens zum Andenken mitgenommen…“ „Wozu?“ rief Walli spöttisch und ging schnurstracks zurück auf ihr Zimmer. Es kam jetzt öfters vor, dass Walli aufbrauste und der Mutter Grobheiten sagte, dann wieder weinte sie und bat die Mutter um Verzeihung. Sie besuchte ihre Freundinnen nicht mehr und lud auch niemanden zu sich ein. Früher brauchte ihr Schulkamerad Jurka Benner nur zu pfeifen, und sie eilte Hals über Kopf hinaus in den Hof, zu ihm. Heute bemerkt sie ihn kaum und geht stolz, ja sogar hochmütig an ihm vorbei, als hätte sie ihn nie gekannt. Dabei drücken sie schon das 10. Jahr ein und dieselbe Schulbank und haben bisher ihre Hausaufgaben immer zusammen gemacht, hier in Wallis Zimmer – und die Mutter konnte ruhig sein, ruhig leben. Jetzt aber zeigt sich Juri nicht mehr bei ihnen, und Walli erwähnt ihn auch nie, mit keinem Sterbenswörtchen. Wieder liegt im Briefkasten zwischen den Zeitungen einer dieser verdächtigen Briefe ohne Rückadresse. Soll diese heikle Geschichte wirklich kein Ende nehmen, denkt die Mutter und betrachtet den Briefumschlag aufmerksam von allen Seiten. Sie kämpft gegen den leidenschaftlichen Wunsch, der Tochter den Brief zu verheimlichen, ihn zu öffnen und endlich den Absender kennenzulernen. Diesen feigen, abscheulichen Schürzenjäger… Der Briefumschlag verbrennt ihr schier die Fingerspitzen, aber sie rafft sich zusammen, versteckt den Brief hinter dem Rücken, klopft bei Walli an und lugt vorsichtig zum Türspalt hinein. Walli liegt auf dem Diwan, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. „Walli, versöhn dich bitte mit Jurka, er ist ein braver Junge“, beginnt die Mutter flehend und kommt gar nicht daran, den Brief zu zeigen. „Nie, nie!“ schreit Walli entrüstet, springt auf und stößt die Tür entschlossen zu. Die Mutter steht fassungslos da. Endlich begibt sie sich in die große Stube, schiebt den Brief kurzentschlossen unter den Zeitungsstoß. Soll der Vater dieses Sendschreiben eigenhändig seinem Töchterlein übergeben, soll er nur, der Schlaue, denkt die Mutter erbost. Und Walli? Ob Walli diese Briefe beantwortet, und was schreibt sie ihm, dem Aufdringling? Mit Walli ist nicht mehr zu reden, wir haben sie verpasst, verloren, unser einziges Kind, sinniert die Mutter trübsinnig weiter und geht hinüber in die Küche. Abends nimmt der Vater den Brief, würdigt ihn kaum eines Blickes und überreicht ihn wortlos der Tochter. „Danke, Pa!“ haucht Walli errötend und verschwindet mit dem Brief sofort in ihr Zimmer. Die Mutter steht fassungslos da und schüttelt verurteilend den Kopf. „Du gleichgültiger, hartherziger Mensch“, sagt sie beleidigt, „kümmerst dich überhaupt nicht um deine Tochter, siehst nicht, was mit dem Kind los ist.“ „Sachte, Anna, nur immer sachte. Was ist denn eigentlich los mit unserem Kind, wie du das Mädel immer noch nennst? Und was, bitte schön, soll ich tun?“ fragte der Vater und schickte sich an, seine Zeitung zu lesen. „Kannst du wirklich nicht begreifen, was ich von dir will? Ich hab dir doch eine Möglichkeit in die Hand gespielt: den Brief . Du hättest Walli in die Beichte nehmen können… Dir hätte sie nichts verschwiegen, ihr seid doch immer ein Herz und eine Seele…“ „Schäm dich, Annuschka“, meinte der Vater versöhnlich. „Du warst früher nie so nörglerisch. Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir beide fremde Briefe lesen? Der eigenen Tochter nachspionieren? Na, da mach ich nicht mit, hörst du? Auch dir rate ich davon ab, meine Liebe.“ Wieder war ein Monat dahingerauscht. Es war schon nicht mehr Herbst und war noch nicht Winter. Eines Abends kam Walli freudestrahlend nach Hause, warf sich der Mutter an den Hals, drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ließ ihre Mama nicht zu Worte kommen. „Wir waren mit Juri im Wald“, sagte sie schnell und beiläufig, fischte sich den größten Apfel aus der Obstschale und huschte in ihr Zimmer. Die Mutter folgte ihr sogleich, setzte sich zu ihr auf das Sofa, nahm ihre Hände und sagte sanftmütig: „Mein liebes Kind, du vertraust mir nicht mehr… und ich bin schuld daran…“ Walli schmiegte sich an die Mutter, schaute ihr tief in die Augen, was sie schon lange nicht mehr getan hatte, und erwiderte leise: „Du bist eine Schwarzseherin, Ma! Dich beunruhigen die Briefe… Nun, die sind von Juri.“ „Von Juri?“ wiederholte die Mutter überrascht und erleichtert, und ihre Augen wurden feucht. Walli nickte bejahend und sagte dann leise: „Ich zürnte dir, weil ich glaubte, du hättest die Briefe gelesen… Und ich muss dir gestehen, Ma: deine Tochter ist kein guter Mensch.“ „Sag sowas nicht, Walli. Nein, nein! Was hast du denn Böses getan? Und wem?“ „Mein Verhalten dir gegenüber… Und zu Jurka…“ „Du bist einfach aufgewühlt. Reizbarkeit der Jugend, mein Kind. Eine leuchtende Welt steht dir offen und es geht dir gut auf dieser Welt mit all ihren Freuden und Rätseln… Du schaust in dich hinein, schaust in die Zu­kunft und wartest, suchst deinen Platz im Leben, suchst dein Glück und wartest auf den Einzigen, dem du alles anvertrauen kannst, der dir einst die drei heißersehntesten Worte sagen wird…“ „Ma, er ist ja da. Er lebt auf der Welt, lebt neben mir und ich weiß längst: er versteht mich und ich verstehe ihn… Er hat mir die drei Worte gesagt, Mutter. Aber ich befürchte, er hält mich für besser als ich bin.“ „Eile nicht, Walli. Warte ab und verrate deinen Traum nicht…“ „Und wenn die Jahre vergehn?“ „Hör mal, mein Töchterlein. Ich kenne das Leben, kenne die Menschen, hab manches erfahren und schätze diese Erfahrungen hoch ein. Glaube immer deinem Herzen. Es ist doch so: du weißt etwas noch nicht sicher, aber dein Herz weiß es schon längst. Und es gibt ein Geheimnis: Wer seinem Traum nicht untreu wird, der wird glücklich sein und bleibt immer jung…“ Plötzlich reisst der Vater die Tür auf und ruft: „Raus, raus von hier, die Damen! Im Bildfunk läuft bereits die 2. Folge des neuen Films. Dalli, dalli, ihr Heulsusen!“

1978