NACH DREIZEHN JAHREN

„Nimm das Telegramm und das Foto mit“, sagte Therese zu ihrem Sohn Edgar, als die Nachbarin Ada Müller hereinkam mit einem „Schengutnoo-wet“, um, wie sie es seit Jahr und Tag gewöhnt war, der oft kränkelnden Nachbarsfrau im Haushalt mitzuhelfen. „Keine Angst, Mutter! Werd ihn schon erkennen“, meinte Edgar mit einem Seitenblick auf das vergilbte Foto, das auf dem Tisch neben dem Telegramm lag. Ada trat näher und beugte sich über das Lichtbild: die jugendlich schöne Therese an der Seite eines sportlich gebauten stolzen Mannes, der einen ganzen Kopf höher war als sie. Wahrscheinlich hatte Edgar sich doch eines Besseren beson­nen. Er kam zurück, ergriff das Foto, schob es in die innere Jackettasche und eilte hinaus, da in diesem Augenblick das vorbestellte Taxi am Treppenflur stoppte. Therese schaute zum Fenster hinaus. Dicke Schneeflocken wirbelten vor den Scheiben herum und verhüllten die Sicht. Ein trüber Wintertag ging zur Neige. „Ob er allein kommen wird?“ sagte Therese halblaut, und ihre Stimme klang wehmütig. Ada hatte indessen den runden Tisch in die Zimmermitte gerückt und ein frisches weißes Tischtuch aufgelegt. Geräuschlos und flink huschte sie hin und her, plauderte über alles Mögliche, scherzte leichthin, und ihre großen Hände zauberten unermüdlich am Geburtstagstisch. Therese ließ Ada gern gewähren. So konnte sie ungestört ihren Gedanken nachgehen. Ihr bleiches Gesicht war wie immer ruhig und ernst, nur die dunklen Wimpern zuckten feucht, nur die schmalen Hände verrieten innere Spannung: sie ordneten das sorgfältig gescheitelte Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst war, dann rückten sie die Lehnstühle zurecht oder zupften an dem weißen Pikeekragen des lilafarbenen Wollstoffkleides , und zitterten, zitterten merklich. „Ada, wie denkst du, steht mir das neue Kleid?“ fragte sie zögernd und rechtfertigte sich sogleich beschämt: „Ich meine das ja nur so … nebenbei…“ „Ei, warum nebenbei, Theresbas!“ rief Ada erstaunt und versicherte überzeugt: „Dea alt Esel kann sei Aache ufreiße, wann´a kommt.“ „Das Kleid hab ich mir selbst genäht zu Neujahr. Und jetzt… der unerwartete Besuch… Edgar wird heute 18. Dreizehn Jahre hat er seinen Vater nicht gesehen“, bemerkte Therese und schaute wieder zum Fenster hinaus. An der Tür läutete es schrill. Therese presste die Hände aufs Herz und blickte flehend zu Ada hin. Ada öffnete die Tür. Kalte Luft strömte herein. An der Türschwelle stand ein hochgewachsener Mann in braunem Wintermantel und schwarzer Pelzmütze. Der Mann nahm seine Mütze ab, trat näher und sagte heiser: „Guten Abend, Therese…“ Sie reichte ihm die Hand. Er spürte die warme Innen­fläche ihrer kleinen Rechten und erbebte unerwartet. Sie sah ihn wortlos an. So also ist er jetzt: gebeugte Schultern, ein von vielen Furchen durchzogenes gelbes Gesicht, tränende Äugen mit unsicherem Blick… Bist alt geworden, Peter, denkt sie und sagt hastig: „Nur herein, rein, wer da ist! Legt bitte ab.“ Zwei Frauenaugenpaare mustern sich sekundenlang prüfend und verdeckt feindselig. Der Mann sagt in die fremde Stille: „Verzeihung… Das ist Natalia Friedrichowna. Und dies.. unser Nesthäkchen. Aljonka…“ Thereses Gesicht hat seinen ruhigernsten Ausdruck zu­rückgewonnen, nur die Hände zittern leicht. Sie führt die Gäste in die große Stube. Ein Gespräch will und will nicht zustande kommen. Vielleicht ist die untersetzte Frau im schwarzen Kleid daran schuld, oder ist´s die niedliche Kleine, die sich dicht an den Vater gekuschelt hat und alle reihum mit stummer Frage anschaut: Na und was weiter? „Ma, ich geh Tante Ada helfen. Kommst du mit, Aljonuschka?“ fragt Edgar und streckt dem Mädchen die Hand hin. Beide gehen in die Küche. Bald sitzen alle um den reichlich gedeckten Tisch herum: Der Vater, rechts von ihm Aljonka und ihre Mutter, links Edgar und Therese, neben ihnen die Nachbarin Ada Müller. Der Vater überreicht Edgar ein stanniolumwickeltes Paket mit den Worten: „Gratuliere dir, Sohn, zu deinem Achtzehnten. Vergib schon, es ist eben so passiert“- Die Frau von rechts wirft ihrem Mann einen stechenden Blick zu. Der Mann verstummt mitten im Satz und streicht sich verlegen das angegraute Haar aus der Stirn. Das Geburtstagskind füllt die Gläser mit Schaumwein und ruft erregt aus: „Zum Wohl meiner Mutter!“ Therese wendet sich ab und wischt sich eine Träne von den Wimpern. Der müde Mann erhebt sein Glas, schaut Edgar tief in die Augen und erwidert entschlossen: „Auf ihr Wohl, ja! Und auf dein Wohl, mein Sohn! Auf gutes Gelingen!“ Und er leert als erster sein Glas. Alle lassen es sich gut schmecken, nur Natalia rührt nichts an. Die ganze Zeit über sitzt sie unbehaglich im Lehnstuhl, und ihre Brillengläser lauern düstern. Sie will fremd bleiben und bleibt es trotz aller Bemühungen ihres Mannes, sie gütiger zu stimmen. Des isch e´ wahre Hex. Hat en Ufwäschlumpe gmacht aus dem Mensch, e´ Schand zuzugucke, denkt Ada und erhebt sich resolut: „Theresbas, ich geh haam, ladno? Macht´s gut, liewe Gäscht!“ – und fort ist sie. Therese zu Natalia Friedrichowna gleichzeitig: „Bitte, fühlen Sie sich wie zu Hause… Ihr seid gewiss müde vom Weg. Und wir tafeln da rum. Gleich richte ich euch das Bad und -“ „Badenl Baden!“ hüpft Aljonka im Zimmer herum. „Zuerst ich. Nicht wahr, Tantchen, erst ich?“ fragt sie aufgeregt. „Erst du. Wie denn anders?“ lächelt Therese. „Loß, Papa!“ drängt Aljonka ihren Vater. Sie ist ihm gut, denkt Therese, den beiden nachblickend. Natalia erhebt sich schwerfällig: „Die überschwemmen noch alles“, meint sie und folgt den beiden ins Badezimmer. In der Badewanne plätscherte es schon lustig. Edgar räumte den Tisch ab und machte sich ans Geschirrspülen. Therese lüftete die Wohnung, bereitete auf dem Sofa eine Schlafstelle, stellte das Klappbett auf und begab sich dann in die Küche. „Danke, Edik. Das andere mache ich schon allein.“ Edgar brauste auf: „Warum hat er die Glotzäugige mitgeschleppt? Eine ganze Woche wolln sie bleiben“, sagt er. „Welch Glück!“ „Beruhige dich, Edik. Wahrscheinlich ging´s nicht anders. Siehst du… Eine Woche ist doch viel Zeit und-“ „Schweig, Mutter!“ unterbrach sie Edgar schroff. „Kein Wort kann man mit ihm wechseln unter diesem Argusblick…“ Er warf den Geschirrlappen ins Waschbecken und entfernte sich. Unglücklich und verraten fühlte er sich. Sein Vater war nicht mehr der Mann, den er geliebt, nach dem er sich gesehnt hatte … jahrelang… Die Gäste gingen früh zu Bett. Therese putzte das Schuh­werk und stellte es in den Schuhschrank, wischte die Dielen auf in Küche und Korridor, knipste überall das Licht aus. Im Dunkeln beugte sie sich über ihren Sohn und hörte ihn tief atmen, tief und gleichmäßig, doch sie wusste, dass er nicht schlief. „Edik“, flüsterte sie und wartete eine Weile. Er schwieg. Sie entkleidete sich und schlüpfte unter die Decke. Reglos lag sie in ihrem Bett und führte ihr stummes Gespräch mit Peter weiter… …Gleich von Anfang an hab ich dich mehr geliebt als du mich. Du hast mich oft auf die Schippe genommen… Mir gefiel´s eigentlich. Ich konnte dir vieles verzeihen. Wie ich war, was ich war, was ich dachte – alles konntest du sehen… Und schön wars… Bis zu jenem denkwürdigen Winter… Zwei Monate schwebte ich zwischen Leben und Tod. Als ich gelähmt heimkam aus dem Krankenhaus, warst du fort… und Edik bei fremden Leuten. Ein Zettelchen auf dem Tisch: Die Zeit hat uns auseinander getrieben. Mitnichten, Peter, die Zeit! Du glaubtest, ich würde für immer ein Krüppel bleiben… Unterbrich mich bitte nicht. Ich hab lang auf dich gewartet… Und Edgars tägliche Fragen nach dir… Als er größer wurde, sagte ich ihm: Vater verließ uns durch meine Schuld… Der Betrieb hat mich nicht verstoßen. Man überführte mich in die technische Bibliothek unseres Werks. Im Fernstudium machte ich dann mein Diplom. Seit fünf Jahren leite ich nun die Bibliothek. Haben leidlich gelebt, siehst du… Edgar hat die 10. Klasse beendet, ist Schlosser, geht im Frühling in die Armee. Denk bloß nicht, ich hätte keine Pläne und Versuchungen gehabt. Die gabs, dabei blieb es aber… Nur die Seele hab ich mir leer gewartet… Heute weiß ich, es gibt kein Zurück. Das Tischtuch ist zwischen uns zerschnitten. Ich habe zu dir hinaufgeschaut, diese Frau schaut auf dich herab… Dabei ist sie, wie mir scheint, weder schön, noch klug. Auch boshaft ist sie, denk ich. Diese schmalen Lippen, der stechende Blick… Du aber bist willenlos, untertänig… Und ich hab Edgar immer von einem ganz anderen Mann erzählt, einem stolzen und starken, wie du einstens warst… In der Morgendämmerung erwacht, merkte Therese, dass ihre Gäste schon auf den Beinen waren. Rasch ging sie in die Küche, stellte Teewasser auf, machte das Frühstück zurecht. Natalie kam heraus, fertig angekleidet. „Bemühen Sie sich nicht, wir haben´s eilig“, sagte sie mit geheuchelter Freundlichkeit, und ihre Brillengläser blitzten schadenfroh. „Wieso denn?“ stammelte Therese frappiert, „ihr seid ja gestern Abend erst gekommen.“ Die untersetzte Frau schob ihr schlaftrunkenes Töchterlein zur Tür hinaus und folgte ihr mit einem spöttisch hingeworfenen „Poka“. Der Mann im braunen Wintermantel zögerte an der Schwelle. „Vergib mir, Therese…“ sagte er verstört. „Nicht mal dreizehn Stunden warst du da nach dreizehn Jahren… Edik, Vater will schon fortgehn“, rief Therese ins Zimmer hinein. „Soll er doch! Je schneller, desto besser!“ schrie Edgar und stürzte heraus in die Stube. Er stieß wütend die Tür auf: „Leb wohl!“ Der müde Mann rührte sich nicht vom Platz. Da standen sie nun nebeneinander, seine Frau und sein Sohn. Plötzlich riss er sie an sich, verzweifelt und stumm, umarmte und küsste beide, und Tränen rollten ihm über die Wangen.“ Pa-a-pa-a!“ erschallte es von unten herauf. „Vergebt mir, wenn ihr könnt…“, flüsterte der Mann. „Längst alles vergeben, Peter. Geh schon, man wartet auf dich draußen…“ Der Mann eilte die Treppe hinunter und winkte abschiedlich. „Vater! Warte, ich begleite dich zum Bahnhof!“ rief Edgar kurz entschlossen und hastete ihm nach, Pelzjacke und Mütze unterm Arm. Therese trat ans Fenster. Sie winkte mit der Hand und weinte. Längst alles vergeben. Und nichts vergessen… Der neue Morgen hatte Farben und neues Leben in den Tag hineingebracht. Der lockere Schnee glitzerte im Sonnenschein und feine Lichtstrahlen stiegen himmelan, einen frischen kalten Wintertag verheißend.

1974