MÄDCHENGEHEIMNIS

Sie hat ein Geheimnis. Schon lange merke ich das und weiß, sie wird es mir früher oder später anvertrauen, weil sie nicht anders kann. Nun sitzt sie mir gegenüber. Hochgewachsen, zart und schön wie ein Rehlein, goldene Sonnenpünktchen unter den ernsten Augen, das stengelhafte Hälschen leicht nach vorn geneigt, der kastanienbraune Zopf hängt schwer über die schmale Schulter. Heute wird sie dreizehn. Vor einem Jahr – an demselben Tag, als sie zwölf wurde, verliess Papa sie, ihren Bruder Sanja und die Mutti. Er nahm sich eine andere Frau, eine junge. In ihrer Anwesenheit wurde jetzt manches erbitterte Wort über Papas Benehmen ausgeschleudert. Mama und die Tanten beschuldigten ihn allein. Sie aber dachte anders. Er tat ihr Leid. Er hatte immer etwas abseits gestanden, sogar von ihr und Sanja. Mutti hatte stets viel zu tun gehabt – in der Schule, zu Hause, im Fernstudium. Sie war in letzter Zeit oft aufgeregt und überspannt gewesen. Der Bruch war wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel gekommen. „Warum hat Papa uns verlassen? Was haben wir ihm angetan?“ wollte sie wissen. „Er hat uns längst verlassen und lebte bloß noch hier, weil er keine Wohnung finden konnte. Er hat jetzt eine andere Familie und andere Kinder“, erwiderte die Mutter scheinbar ruhig, aber empfindlich berührt. „Und wir? Sanja und ich? Sind wir etwa nicht seine Kinder?“ Das Mädchen zog den Kopf in die Schultern, als erwarte sie einen jähen Schlag. „Doch, ihr seid´s. Aber sieh, fremde Kinder sind ihm lieber. Nichtmal seine Adresse hat er euch zurückgelassen.“ Von jenem Tag an suchte sie ihren Vater. Dies war ihr großes Geheimnis. Sie ging jetzt nicht mehr mit den Freundinnen zur Schule. Sie ging allein und hatte es immer sehr eilig. Aus der Schule kam sie seither später heim als Sanja, ihr Bruder, der ein Jahr älter und ihr eine Klasse voraus war. Zweimal täglich machte sie den weiten Umweg zu Vaters Arbeitsstelle, doch traf sie ihn weder morgens noch nachmittags… Ihre Augen sind jung und scharf, sie sehen weit und viel: Hunderte Menschen zu beiden Seiten der Straße. Nur nicht ihn. Sie eilt, die Schulmappe in der Hand, durch die Straßen der Stadt, denkt und denkt nach, die hohe Stirn in Falten gezogen. Papa hat eine andere Familie, andere Kinder. Wie kam das? Mutti ist fleißig und klug. Sie ist eine gute Lehrerin. Alle Schüler lieben sie. Er aber hat aufgehört, sie zu lieben. Und liebt eine andere, eine ganz fremde Frau und hat sie geheiratet. Ihre Kinder nennen ihn Vati wie Sanja und sie. Warum? Wer ist schuld daran? Die Eltern? Oder sie und Sanjka? Sie hätten sich eben nicht so oft wegen nichts und wieder nichts raufen sollen. Also auch diesmal umsonst hingerast? Tut nichts! Sie wird Papa schon treffen, wenn nicht heute, so morgen, über­morgen oder in der nächsten Woche. Sie wird ihn ausfragen, er wird ihr alles erzählen und klarlegen. Sie ist doch kein Kind mehr. Dreizehn. Sie kann schon alles begreifen. Er ist ihr Vater und sie – seine fast erwachsene Tochter. Zwischen ihnen braucht kein drückendes Geheimnis zu schweben. Zu Hause macht sie schweigend ihre Schulaufgaben und spinnt ihre Gedanken weiter. Ununterbrochen. Käme doch niemand mehr zu uns… Jeder fragt Mama teilnahmsvoll aus, jedem klagt sie ihr Leid, jeder verurteilt den Imstichlasser. Das ewige Ausfragen wühlt einen so auf. Man schämt sich vor den Leuten, den Lehrern, den Mitschülern. Verheimlicht, dass man im Stich gelassen ist. Auch Sanja verhehlt es vor seinen Kameraden. Sie lernt fleißiger denn je und bringt nur beste Noten heim. Nicht so Sanja, dessen Schultagebuch von Dreien wimmelt. Manchmal stehen auch schlechte Noten drinnen. Sieht Mutti diese schlechten Noten, regt sie sich auf und bittet, er solle doch besser lernen, er sei ihre einzige Hoffnung, der einzige Mann im Haus. Er ist ziemlich leichtsinnig und oberflächlich, dieser „einzige Mann“, findet der Backfisch, er ahnt nichts von ihrem täglichen Suchen. Endlich kommt ihr der Gedanke, ins Auskunftsbüro zu gehen. Wie einfach alles ist! Man füllt ein Formular aus und schon hält man die Adresse in der Hand. Das Herz schlägt verräterisch laut und das Papierchen in der Rechten zittert. Tscheljabinskaja 25. Er wird sich freuen, sie zu sehen, wird sich wundern über ihre Findigkeit. Sie wird stolz eintreten, sich ihm an den Hals werfen, ihn küssen. Tag, Vati, wird sie sagen, wie geht es dir? Sehnst du dich nicht nach uns? Dann kommen die fremden Jungs herbeigehüpft, vielleicht auch die fremde Frau. Und alle wollen wissen, wer sie sei. Sie aber wird in erster Linie die fremde Frau betrachten und sie mit Mama vergleichen. Ob sie schöner ist? Dann die Buben. Ob sie artiger sind als Sanjka? Fleißiger als er? Tscheljabinskaia 25. Ein großes neues Einzelheim unter Schieferdach. Grüngestrichener Staketenzaun. Im Hof ein Brunnen. Geräuschlos nähert sie sich der Freitreppe. Besteigt die vier Stufen. Wartet. Stille ringsum, nur das bange Pochen des eigenen Herzens. Zögernd drückt sie auf die Klinke… Nun sitzt sie mir gegenüber, streichelt mit dem Zeigefinger das weißgelbe Tischtuch und spricht ganz leise, tieftraurig, aber höchst erregt, und in ihren Augen sehe ich Angst und Zweifel, Wehmut und noch irgendwas, wofür ich keine Worte finde, wie ich auch suchen mag. „Alles war anders“, erzählt sie. „Alles. Papa erschien auf der Schwelle, klemmte rasch die Tür hinter sich zu und starrte mich erschrocken an. Schon hörte ich Schritte, und. eine Frauenstimme rief laut: „Wer ist da, Tolik? “ „Ein Kollege, Nadjuscha, ein Kollege“, stammelte Papa, immer noch die Türklinke umklammernd. „Moment mal“, sagte er hastig, schob mich beiseite und weg war er! Kein Wort für mich, keine Frage, kein Blick. Hinter der Tür wurde getuschelt. Ich wartete und wartete, es kam aber niemand. Am Pförtchen schaute ich mich um – mir schien, jemand rufe mich. Nichts war. So. Jetzt weiß ich, wo er wohnt. Aber besuchen werde ich ihn nie wieder. Nie. Wozu auch?“ Sie schaut angestrengt auf‘ ihre Hände und schweigt. Ihre Gedanken eilen und eilen, wiederholen einander sprunghaft. „Ich habe seine Stimme nicht erkannt. Wirklich, wirklich“ beteuert sie , als ob jemand diese Tatsache bezweifle. Die Dreizehnjährige schaut mir prüfend in die Augen. Nach einer Weile meint sie zutraulich: „Aber sagen Sie bitte Mama und Sanja kein Wort von meinem Besuch bei Papa. Bitte…“

1969